Heutzutage dürfte Claire Heliot in Stuttgart gar nicht mehr auftreten. Aber einst war sie die Attraktion in Zoos, Varietés und im Nill’schen Tierpark am Herdweg. Sie trat mit zwölf Löwen auf, legte sich eine Raubkatze um den Hals, steckte den Kopf in einen Löwenrachen. Vor 70 Jahren starb die Dompteuse in Stuttgart.

Sie hatte eine interessante Tischgesellschaft. Claire Heliot saß mit fünf Löwen zusammen und speiste. Sie selbst war nicht die Mahlzeit, die „kühne Löwenbraut“, so eine Brüsseler Zeitung, war die Chefin. Sie fütterte ihre Tischgenossen mit Fleischbrocken, die sie an einer langen Gabel aufgespießt hatte. Die Löwen saßen tatsächlich auf Holzstühlen. 45 Minuten lang dauerten die Auftritte zu der Musik aus George Bizets Oper „Carmen“ mit ihren zwölf Löwen und vier Doggen. Die Löwen Nero und Sascha balancierten über straff gespannte Seile, die Tiere formierten sich zu Pyramiden, liefen über Wippen, Claire Heliot steckte den Kopf in einen Löwenrachen – und am Schluss jeder Darbietung trug sie Sascha wie einen Schal um den Hals und aus der Manege.

 

Sie eroberte die Welt

Heliot war Anfang des 20. Jahrhunderts ein Weltstar. Die Tourneen der Stuttgarterin führten sie nach Russland und in die USA. Auf dem Atlantikdampfer wird ihr Bild auf die Speisekarten gedruckt. Der Zar schickt ihr 1902 beheizte Eisenbahnwaggons, damit sich die Löwen nicht erkälten. 1905 tourt sie sieben Monate lang durch die USA. Und sie gastiert in Nill’s Tiergarten am Herdweg. Damals schier unfasbare 8000 Goldmark zahlte der Zoochef und Tierarzt Adolf Nill der Heliot, damit sie bei ihm auftritt. An manchen Sonntagen strömten 20 000 Leute den Hang hinauf. Die Nummer war Stadtgespräch. Einmal wünschte der König von Württemberg eine Extravorstellung. Ohne sonstiges Publikum. Am nächsten Tag kommt der König wieder vorbei und schenkt ihr ein Brillantarmband. Von da an lässt er ihr regelmäßig Süßes bringen. „Für die Löwen“, heißt es offiziell.

Auf in den Kampf, Torero!

Der Schriftsteller Paul Epper schildert 1961 in der Stuttgarter Zeitung den Auftritt: „‚Sascha, tournez!‘ Bei diesem Ruf der hellen Frauenstimme unterbricht die Musikkapelle den Torero-Marsch. Stille in der Arena, Schweigen auch bei den Zuschauern im Rund der Völkerwiese. Der große, seillaufende Mähnenlöwe Sascha hat das Hanftau zwischen den zwei hohen Postamenten Schritt um Schritt überquert und dreht sich, am Ende angelangt um sich selbst, geht würdevoll den leicht pendelnden Seilpfad zurück. Wieder schmettern die Trompeten ,Auf in den Kampf, Torero!‘. Mit einem Sprung federt Nero die Leitertreppe empor, besteigt das Tau, und jetzt kommen von links und rechts die zwei Löwen aufeinander zu. Sobald sich ihre Köpfe berühren, tritt Miss Heliot lächelnd heran, hebt den Arm, so dass sie die Flanken der beiden ihr besonders lieben Löwen tätscheln kann. ,Merci, allez sur place!‘ Nero und Sascha gleiten zum Manegensand hinunter, zwischen ihre zehn goldbraunen Kameraden.“

Zum Glück gezwungen

Clara Pleßke wird am 9. Februar 1866 in Halle an der Saale geboren. Sie heiratet den Stallmeister Karl Hanmann, wohl auch, weil sie die Liebe zu Pferden teilen. Zirkusreiterin wollte sie werden. Doch ihr Mann bringt das gemeinsame Vermögen durch. „Ich musste einen Beruf ergreifen“, sagte sie später. Sie fängt mit 30 Jahren als Tierpflegerin im Zoo in Leipzig an. Im Haus eines Oberwärters werden gerade zwei junge Löwen, Sascha und Nero, großgezogen. Clara Pleßke zieht die Tiere auf, dressiert sie.

„Ich hatte niemals Angst“

Schließlich soll sie ihr Geschick mit deren erwachsenen Artgenossen beweisen. Sie erinnert sich in einem Gespräch mit dem Süddeutschen Rundfunk im Jahre 1950, dem einzig erhaltenen Tondokument von ihr: „Die waren zahm, aber natürlich nicht zu mir. Wie ich hineinkam, gingen die erst mal auf mich los. Ich bin kalt lächelnd wieder raus“, erzählt sie. Angst habe sie nie gehabt. Das Gefühl kenne sie nicht. „Ich hab auch bei Angriffen keine Angst gehabt.“

Weitere Löwen kommen hinzu: August, Romeo, Cäsar, Faust, Ralf, Sultan, Prinz, Lux. „Sie mussten kommen, wenn ich rief: Kam der Richtige, gab es ein Fleischstückchen. Kam der Falsche, musste er wieder zum Platz.“ Jeden Tag, acht Stunden lang. „Nach und nach betrachteten sie mich so, als ob ich dazugehöre.“ Sie hat immer nur männliche Löwen ausgebildet, weil Weibchen in der Brunstzeit nicht zu halten seien. „Allerdings haben auch die Männchen ihre schwierigen Phasen. Manches Mal bin ich gebissen oder gekratzt worden, aber nie in böser Absicht.“

Ein Jahrzehnt in der Manege

1897 tritt sie erstmals auf. Die Dompteuse Claire Heliot war geboren. Zehn Jahre später endet ihre Karriere. In Kopenhagen wird sie von einem ihrer Löwen schwer verletzt. „Ich wollte die Löwen auf ihre Stühle bringen, wandte Lux ahnungslos den Rücken zu. Er sprang mich an, biss zu, ließ wieder los, als ich ihn anrief. Es hätte mich das Leben kosten können, wenn ich gefallen wäre.“

Sie kehrt nicht mehr in die Manege zurück. Ihr Mitarbeiter Karl Haupt übernimmt die Löwengruppe. In Stuttgart und Umgebung hat sie sich immer wohlgefühlt. Heliot kauft für 75 000 Mark den Rappenhof bei Leonberg, züchtet Pferde. Ihre Bewunderer haben sie nicht vergessen. So schickte ihr der Latrinendirektor für ihren Hof „die beste Jauche der Stadt, von Heslach, weil in der am wenigsten Papier war“.

OB Klett kümmert sich

Die Geldentwertung von 1923 brachte sie um ihr Vermögen, sie verkaufte den Hof, zog in eine kleine Wohnung in Stuttgart an der Stitzenburgstraße. Sie wird ausgebombt, ihr Schmuck gestohlen. Bettelarm kommt sie in ein Altersheim in Beutelsbach. Im Interview mit dem SDR sagt sie, ihr größter Wunsch sei, ihren Lebensabend in Stuttgart verbringen zu dürfen. OB Arnulf Klett hört das. Auf Kosten der Stadt bekommt sie im Hasenbergheim an der Reinsburgstraße ein Zimmer. 1953 stirbt sie in Feuerbach im Krankenhaus.

Ihr Grab findet sich auf dem Waldfriedhof in der Abteilung 16 A. Hinter dem Haupteingang nimmt man den ersten Hauptweg nach rechts, nach dem zweiten Brunnen geht es halb rechts. Hinter einer Bank ist ihr Grab. Man erkennt es, wie könnte es anders sein, an einem roten Löwen.

Wo ruht sie