20. Oktober 1967: Der Aktivist Joseph Martin (Joschka) Fischer – hier mit Megaphon – demonstriert anlässlich einer Kundgebung gegen den Vietnamkrieg vor dem US-Generalkonsulat in der Urbanstraße in Stuttgart. Zwei Monate später ereignete sich die Störaktion in der Leonhardskirche. Foto: Burghard Hüdig/Hauptstaatsarchiv Stuttgart
Vor 57 Jahren war Stuttgart Schauplatz einer etwas anderen Weihnachtsgeschichte. Sie spielte in der evangelischen Leonhardskirche und war alles andere als besinnlich. Einer der Hauptakteure war der damals 19-jährige Joschka Fischer.
In den Tiefen des Hauptstaatsarchivs Stuttgart – und tief ist hier wörtlich zu nehmen – finden sich immer wieder erstaunliche Schätze. Das Archiv an der Konrad-Adenauer-Straße verliert nichts und es vergisst nichts. Auch nicht, was sich ausweislich von Akten des Justizministeriums in den Dezembertagen des von Studentenunruhen geprägten Jahres 1967 in der Stuttgarter Leonhardskirche ereignet hat. Es ging um ein Weihnachtskonzert, den Vietnamkrieg, einen falschen Weihnachtsmann und eine Stinkbombe. Ein Hauptakteur war der damals 19-jährige Joschka Fischer, der später Bundesaußenminister werden sollte.
Doch der Reihe nach: „Am Donnerstag, 21. Dezember 1967, veranstaltete das Karls-Gymnasium Stuttgart um 19.30 Uhr in der Leonhardskirche eine Weihnachtsmusik, die gottesdienstlichen Charakter trug“, so begann der damalige 1. Pfarrer der Leonhardskirche und evangelische Stadtdekan Hans Lindel seine Zusammenfassung der turbulenten vorweihnachtlichen Ereignisse. Auf dem Programm standen Bach und Buxtehude. Schon vor Beginn der Feier hätten mehrere junge Leute Flugblätter verteilt, die optisch an das Programm des Karls-Gymnasiums erinnerten. In Wirklichkeit habe es sich jedoch „um ein politisch-sozialkritisches, stellenweise auch blasphemisches Machwerk“ gehandelt. Gerichtet war es gegen den Vietnamkrieg.
Konzertteilnehmer schoben den Weihnachtsmann zur Tür hinaus
„Als die Feier begonnen hatte, bemerkte der Mesner, dass ein als Weihnachtsmann verkleideter junger Mann, der einen großen Sack trug, in Begleitung einer jungen Dame in die Kirche hinein wollte“, notierte der Stadtdekan in seiner späteren Strafanzeige. Der Mesner habe versucht, sie am Zutritt zu hindern, doch „das Paar wich nicht“. Konzertteilnehmer hätten den Weihnachtsmann daraufhin zur Tür hinausgeschoben, ehe er den Inhalt seines Sackes in der Kirche hätte entleeren können. Und dann passierte es: „Während dieses Vorgangs wurde innerhalb der Kirche eine Stinkbombe geworfen, vermutlich von der Diskussionsgruppe, die sich noch in der Kirche aufhielt.“
Joschka Fischer (mit Schild) demonstriert in Stuttgart gegen den Vietnamkrieg. Foto: Burghard Hüdig/Hauptstaatsarchiv Stuttgart
Die Polizei war an diesem Abend gleich zweimal im Einsatz. Das erste Mal rückten die Beamten wegen der Flugblatt-Verteilung an. Bei den Demonstranten handelte es sich um junge Leute, die schon bei früheren Protestaktionen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) aufgefallen waren: „In der Personengruppe befand sich das bei ähnlichen Anlässen immer in Erscheinung tretende Ehepaar Fischer“, heißt es in ihrem Bericht. Routinemäßig wurden die Personalien festgestellt: Joseph Martin Fischer, geboren am 12. April 1948 in Gerabronn, Kreis Crailsheim, verheiratet mit Edeltraud Fischer, Student wohnhaft in Fellbach, Stuttgarter Straße. Die Polizeibeamten wollten von ihm wissen, was er mit der Aktion bezwecke: „Er antwortete sinngemäß: ,Ich habe hierzu nur meine Hand geliehen.‘“
Wer hat die Stinkbombe geworfen?
Gegen 20 Uhr folgte der nächste Einsatz – jetzt wegen des Weihnachtsmannes und der Stinkbombe in der Kirche. Als die Polizei eintraf, war der Weihnachtsmann bereits verschwunden. Ebenso Joschka Fischer. „Nach fünf Minuten kam er aber aus Richtung Leonhardspost zurück“, notierten die Beamten. „Auf unsere Befragung erklärte er, er sei ein wenig spazieren gegangen. Vorher war er jedoch in der Leonhardskirche, wo wir ihn gegen 19.30 Uhr hatten hineingehen sehen. Dieser Umstand lässt vermuten, dass Fischer auch etwas mit dem Werfen der Stinkbombe zu tun hatte“. Allerdings konnten die Zeugen zum Stinkbombenwerfer „keine konkreten Angaben machen“. Ein aufgrund der Strafanzeige des Pfarrers eingeleitetes Ermittlungsverfahren brachte ebenfalls kein Licht ins Dunkel: „Der Werfer der Stinkbombe und der als Weihnachtsmann verkleidete Unbekannte konnten bisher nicht ermittelt werden“, heißt es in einem Schreiben der Staatsanwaltschaft.
Aus „Macht hoch die Tür“ wurde ein Protestsong gegen den Vietnamkrieg
Andere Punkte wurden hingegen geklärt. So stellten die Ermittler fest, dass die Demonstranten in dem als Programmzettel getarnten Flugblatt „Zwischentexte“ in den Choral „Macht hoch die Tür“ eingefügt hatten. Zu lesen war da etwa: „Hic et nunc democracy / freedom, sound morality: / Vietcong ist Freiheitsvieh. / Folterung im Dschungeldunkel / ist in Wahrheit nur Gemunkel: / Vietcong ist Pestfurunkel / Our boys besiegt man nicht, /Napalm ist ein Gotteslicht . . . / Zerstört den Militärapparat! / Zerstört die Staatsbürokratie! / Zerstört die Moralbegriffe!“ Oder auch: „Ihr Christen, geht herfür, / lasst uns vor allen Dingen Parolen an Häuser und Scheiben und auf Straßen schreiben.“ Der Lehrkörper des Karls-Gymnasium gab laut den Akten „seiner Empörung über den Inhalt Ausdruck und verwahrte sich entschieden gegen die Verbreitung zumal als Impressum das Karls-Gymnasium als verantwortlich angegeben war“.
Der „grobe Unfug“ blieb strafrechtlich folgenlos
Inspiriert worden war die Gruppe um Joschka Fischer offenbar von einer ähnlichen Aktion in Berlin, wo der SDS zuvor einen Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gestört hatte. Flugblätter gegen den Vietnamkrieg wurden am Silvesterabend 1967 auch vor der Stuttgarter Paul-Gerhardt-Kirche, der Johanneskirche und der Stiftskirche verteilt.
Der am 21. Dezember in der Leonhardskirche verübte „grobe Unfug“, von dem in den Ermittlungsakten die Rede ist, blieb indes folgenlos. Am 3. Mai 1968 schrieb der Oberstaatsanwalt an das Justizministerium, man beabsichtige das Verfahren einzustellen. Den vier Beschuldigten – dem Ehepaar Fischer und zwei weiteren Personen – könne kein strafbares Verhalten nachgewiesen werden. Der Flugblattinhalt sei in „satirisch erweiterter Form“ nicht strafbar. Das Singen eines falschen Textes auf die Melodie eines Weihnachtsliedes könne allenfalls ein Vergehen darstellen, „wenn eine gottesdienstähnliche Verrichtung einer bestehenden Religionsgemeinschaft gestört wurde. Das Konzert fand jedoch ohne Assistenz eines Geistlichen statt.“ Zudem habe es überkonfessionellen Charakter gehabt.
Bei einem Besuch von Bundeskanzler Kiesinger gab es Handgreiflichkeiten
Weiter schrieb der Oberstaatsanwalt, bei dem es sich dem Duktus nach offenbar um einen liberalen Geist handelte: „Das Singen des falschen Liedtextes wurde nach Zeugenaussagen nur von ganz wenigen Veranstaltungsbesuchern überhaupt bemerkt und erregte keinerlei Aufsehen.“ Auch habe kein Hausfriedensbruch vorgelegen, denn jeder habe Zutritt zur Kirche gehabt. Und weil die Personalien des Weihnachtsmannes und des Stinkbombenwerfers nicht ermittelt werden konnten, „gibt es auch keine Strafverfolgung“. Am 4. Juni 1968 wurde das Verfahren schließlich eingestellt.
Fünf Monate später hatte Fischer nach einer Demonstration auf dem Schlossplatz anlässlich eines Besuchs von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bei Ministerpräsident Hans Filbinger im Neuen Schloss dann doch ein Verfahren am Hals: Es ging um Handgreiflichkeiten und Beamtenbeleidigung. Im Zuge des Straffreiheitsgesetzes von 1970 wurde es eingestellt. Aber das ist eine andere Joschka-Fischer-Geschichte.