Ihre Recherchen über die Jüdin Else Kahn führten Annegret Braun bis nach Israel zur Tochter der Deportierten. Am 17. Mai wird nun mit einem Stolperstein an die Frau erinnert, deren Fahrt in den Tod am 1. Dezember 1941 auf dem Stuttgarter Killesberg begann.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Am 13. Januar 2013 gegen 19 Uhr klingelte bei Annegret Braun im Stuttgarter Westen das Telefon. Eine Frau sagte: „Ich bin Ruth Demol.“ Der Anruf kam aus Tel Aviv. Und diese Nachricht machte Annegret Braun, die sonst nicht so schnell um ein Wort verlegen ist, sprachlos. Glücklicherweise saß sie zu diesem Zeitpunkt schon, sonst hätte es ihr wahrscheinlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie schwankte zwischen tiefer Ergriffenheit und dem Gefühl stillen Triumphes über das Schicksal, das es Annegret Braun bei ihrer Recherche nicht immer ganz leicht gemacht hatte. Doch alle Widerborstigkeiten waren nun vergessen. Für beide Frauen geschah an diesem Januarabend Ungeheuerliches.

 

Für Ruth Demol, die Anruferin, war es alles andere als selbstverständlich, mit einer Fremden über ihre Vergangenheit zu reden. Das hatte sie ein Leben lang nicht einmal mit den eigenen Kindern getan. Warum also tat sie es jetzt? Sie hatte ihre guten Gründe. Die Stuttgarterin Annegret Braun hatte die Geschichte von Ruths Eltern aus vielen Archivfunden, Erzählungen und Besuchen an den Lebensstationen sieben Jahrzehnte nach deren Tod zusammengetragen und aufgeschrieben. Doch Ruth Demol galt als unauffindbar in Israel. Und nun meldete sich die Tochter des jüdischen Ehepaars Else und Erich Kahn so einfach per Telefon. Über Umwege war sie in den Besitz der Aufschriebe Brauns gekommen. Eigentlich hatte Annegret Braun die 80-Jährige befragen wollen, was sie über das Schicksal ihrer Eltern wusste – und die Erlaubnis für die Verlegung eines Stolpersteines bei ihr erfragen. Denn zusammen mit der Stolperstein-Initiative aus Stuttgart-Nord verfolgte sie diesen Plan seit Längerem. Doch es kam alles anders. Nun hatten die Rollen sich verkehrt. Braun war nicht mehr nur Zuhörerin. Sie wurde zur Erzählerin.

Es gab kein Wiedersehen von Else Kahn mit ihrer Tochter

Ruth Demol wollte sich an diesem Winterabend bedanken, dass die Frau aus Stuttgart ihr einen Teil ihres Lebens zurückgegeben hatte. 74 Jahre lang hatte sie nicht gewusst, was aus ihrer Mutter und ihrem Vater geworden war. Denn mit knapp sechs Jahren hatte ihre Mutter sie am 22. März 1939 an der Hand einer Vertrauten auf den Weg nach Palästina gegeben. Ruths Vater war seit der Zerstörung der Synagoge im badischen Randegg, wo er Rabbiner war, abgetaucht und aus Ruths Welt verschwunden. Aber sie selbst sollte den Rassenwahn der Nazis bei ihren Großeltern, ihrem Onkel und dessen Familie überleben – und wenn alles gut gehen würde, irgendwann wieder mit ihren Eltern vereint sein. Schweren Herzens hatte ihre Mutter Else sich auf diesen schmerzhaften Abschied eingelassen. Ruth war ihre einzige Tochter. Aber es sollte kein Wiedersehen geben.

Else Kahns Hoffnungen aber gingen nicht in Erfüllung. Zusammen mit ihrem Mann und 959 anderen Menschen jüdischen Glaubens wurde sie am 1. Dezember 1941 von Stuttgart aus, wohin sie im Herbst 1939 gezogen waren, nach Riga deportiert. Vom Sammellager auf dem Killesberg nahm beider Reise in den Tod ihren Ausgang. Else Kahn war nur ein Name auf einer Liste. Niemand hätte 70 Jahre später von der junge Frau erzählen können.

Mit einem Kästchen mit Namen fing die Suche an

Noch nicht, muss man heute sagen. Denn bei einer Klanginstallation anlässlich der 70. Wiederkehr dieses furchtbaren Tages gelangte Annegret Braun im Haus der Geschichte in den Besitz eines schwarzen Kästchens, auf dem der Name Else Kahns stand. Sie übernahm symbolisch eine Patenschaft für die Frau und legte das Kästchen erst einmal zu Seite. Von Else Kahn wusste Annegret Braun damals nicht viel. Bekannt war ihr nur, dass sie am 29. Mai 1910 in Neckarbischofsheim geboren war.

Zu diesem Zeitpunkt war Braun noch berufstätig. Und sie nahm das Kästchen eher zur eigenen Beruhigung denn als unmittelbaren Arbeitsauftrag mit. Erst im darauf folgenden Jahr sollte für die damals 62-Jährige die Altersteilzeit beginnen. Noch hatte sie als Leiterin der diakonischen Beratungsstelle PUA für Fragen der pränatalen Untersuchungen und Aufklärung mehr als einen Fulltime-Job. Aber natürlich machte sich die frischgebackene Fast-Ruheständlerin im Frühsommer 2012 nicht daran, wie lange geplant, die vielen Schriftstücke und Erinnerungen in ihrer Wohnung zu sortieren. Diese Vorhaben verschob sie nur allzu bereitwillig auf unbestimmte Zeit in der Zukunft.

Annegret Braun wollte dem Tod nicht das letzte Wort geben

Denn der Wille, der sie sich schon bei der Arbeit als Beratungsstellenleiterin und zuvor erst als Kinderkrankenschwester, dann als Klinikseelsorgerin am Olgäle beseelt hatte, nämlich gegen den Tod anzukämpfen und ihm nicht das letzte Wort im Leben zu geben, war nicht plötzlich erloschen. Er erfüllte sie weiter. Sie wollte dem millionenfachen Tod durch den Holocaust zumindest ein rekonstruiertes Leben entgegensetzen. Sie wollte Else Kahns Leben die Würde nachtragen, die sie zu Lebzeiten nicht erfahren hatte. Und sie wollte Else ein Leben zurückgeben, in dem sie eine Frau mit Hoffnung, Nöten und Gefühlen sein sollte und das sich nicht nur auf ihren Tod reduzierte.

Annegret Braun, die vorher noch nie historisch gearbeitet hatte, betrat mit 62 Jahren von diesem Gedanken erfüllt Neuland. Dass dabei das Büchlein „Else Kahn geborene Jeselsohn. Nachgetragene Würde – nachgetragene Liebe. Eine Lebensgeschichte“ entstehen würde, konnte sie sich nicht einmal im Traum vorstellen. Sie fand sich plötzlich in Archiven wieder, fuhr die Lebensstationen Else Kahns, die sie zärtlich „meine Else“ nennt, im badischen Ihringen, fränkischen Neckarbischofsheim, Randegg und natürlich in Stuttgart ab. Sie fand alte Frauen, die als Vorschulkinder noch mit der kleinen Ruth gespielt hatten und sich auch an deren Mutter Else erinnerten. Und doch endet die Geschichte nicht in der Koppentalstraße 6 im Stuttgarter Norden, wo Else und Erich Kahn ihren letzten Wohnsitz bis zum 27. November 1941 hatten und wo am 17. Mai ein Stolperstein für Else Kahn verlegt werden soll.

Die Fahrt nach Israel war für alle emotional aufregend

Ruth Demol lud sie bei diesem denkwürdigen Telefonat nach Israel ein. Nach Deutschland wollte sie selbst nicht kommen. Die Tage in Israel waren für Annegret Braun, deren Denken Zeit ihres Lebens um die Fürchterlichkeiten des Massenmords an den europäischen Juden und die Frage der Schuld kreiste, die emotional aufregendsten in ihrem Leben. Da ist es ihr wohl gegangen wie der eher schweigsamen Ruth Demol, die ihr zum Abschied einen Brief zusteckte, den Braun wie einen Schatz bei sich trägt und der festhält, was diese späte Begegnung für die 80-Jährige bedeutet.

Zur Stolpersteinverlegung werden eine ihrer beiden Töchter, ihr Sohn und zwei ihrer neun Enkel aus Israel anreisen. Ein Familienfoto aus Israel zeigt sie alle und macht deutlich, dass das Leben doch über den Tod gesiegt hat. Auch Ruth Demols Kinder, Elses Enkel also, haben erst von Annegret Braun vom Schicksal ihrer Großmutter erfahren. Sie konnte ihnen aus Briefen zweier überlebender Frauen des KZ Stutthofs bei Danzig berichten. Danach war Else Kahn bis in ihre letzten Tage aufrecht, stark und hilfsbereit. Sehr wahrscheinlich ist sie Ende 1944 an den Folgen einer Typhusepedemie gestorben. Für Braun ist das ein kleiner Trost im großen Grauen. Wenigsten ist sie nicht hingerichtet worden. Ihr Todesdatum und das ihres Mannes ist nachträglich auf den 31. Dezember 1945 datiert. Ein letzter Behördenwillkürakt im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens, das Ruth Demol angestrengt hat.

Nun will Annegret Braun, dass alle vom Leben der Else Kahn erfahren. „Jetzt geht es erst los“, sagt sie. An ihrem Durchhaltewillen wird es nicht scheitern. Das Aufräumen wird weiter warten müssen.