Mit der Einweihung des neu gestalteten Synagogenvorplatzes an diesem Donnerstag (12. Juli) sendet die Israelitische Gemeinde ein Signal an die Stadt: Die Zeichen stehen auf Öffnung.

Stuttgart - Es gibt Plätze in Stuttgart, die lagen lange nur da, um übersehen zu werden. Der Synagogenvorplatz war so ein Ort. Verborgen, unscheinbar, fast vergessen. Dabei ist es ein Platz voller Geschichte. Auch einer dunklen, die sich in der Pogromnacht am 9. November 1938 abspielte. Die alte Synagoge brannte bis auf die Grundmauern nieder, ehe sie im Mai 1952 wieder geöffnet wurde.

 

Nun aber soll eine ganz neue Ära anbrechen. Die Israelitische Religionsgemeinschaft will sich öffnen. „Der neue Vorplatz ist ein Sinnbild dafür“, sagt Lars Neuberger, Vorstandsreferent der jüdischen Gemeinde, er werde zum Hospitalviertelfest am 12. Juli (17 Uhr) offiziell eingeweiht. Die Gemeinde geht diesen Weg der Annäherung schon länger. Ungeachtet eines neu aufflammenden Antisemitismus in der Welt. Es ist fast so, als hätte jede Bewegung ihre Gegenbewegung. In dem Maße wie der Hass auf Juden wächst, sucht die Stuttgarter Israelitische Religionsgemeinschaft die Nähe zur Stadtgesellschaft. Mitten in diesem Strudel der Zeit will man einen neuen Anker werfen.

Das Interesse am Judentum ist gewachsen

„Das Interesse an uns ist gewachsen“, sagt Neuberger, „es liegt auch daran, dass wir uns öffnen.“ Früher, durch die Schrecken der Schoah, hätten sich die Gemeindeglieder von der Gesellschaft abgewandt. „Aber das hat sich seit der Zuwanderung grundlegend geändert.“ Vor dem Krieg zählte Stuttgart 3000 Juden. Nach dem Krieg kamen nur wenige Überlebende des Holocaust zurück.

„Zehn Leute haben damals die Gemeinde aufgebaut“, erzählt Bina Rosenkranz, die regelmäßig Besucher durch die Synagoge führt. Ihr Vater kam aus Polen über das KZ Vaihingen/Enz nach Stuttgart. Er war wie 600 Mithäftlinge der Deportation nach Dachau entgangen und wurde am 7. April 1945 durch Truppen der französischen Armee befreit. Wie die meisten Juden aus Vaihingen/Enz fand auch Binas Vater im oberen Teil der Reinsburgstraße eine neue Heimat.

Und doch bleibt die Zahl der aktiven Gläubigen in Stuttgart überschaubar. An einem normalen Freitag kommt kaum mehr als ein Dutzend Betende in die Synagoge. Glaubensfremde können zwar am Gottesdienst teilnehmen, müssen sich aber einer Personenkontrolle unterziehen. Daher ist mit dem Zerberus am Hintereingang in der Firnhaberstraße Nachsicht geboten. Auch wenn er durch seine grimmige Miene und abschreckender Unfreundlichkeit alle Besucher unter terroristischen Generalverdacht zu stellen scheint – er schützt die Synagoge und das Gemeindezentrum vor Überfällen.

Polizei kontrolliert Passanten

Auch wer vor der Synagoge vorbei flaniert, gar ein Foto vom schmucken Platz macht, muss mit einer Polizeikontrolle rechnen. Paranoia oder gesundes Misstrauen? Der Beamte, der den Personalausweis unter die Lupe nimmt, weicht der Frage aus: „Sie könnten ja ein Terrorist sein. Aber hier ist es sicher nicht so schlimm wie in Berlin.“

Auch wenn Stuttgart sicherer als die Hauptstadt oder Paris ist – alle sind auf der Hut. „Wir wollen nicht in die Luft fliegen. 1979 wurde hier mal eine Bombe gefunden“, sagt Bina Rosenkreuz und kämpft um jedes kleine Stück Normalität. Gerade mit ihren Führungen durch die Synagoge und die Geschichte des Judentums will sie Schranken abbauen, Verständnis und Zugang wecken. „Ich will eine Brücke in die Gegenwart schlagen“, sagt sie, „ins aktive Judentum.“ Denn dieses neue Judentum sei nicht so exotisch, wie man glaubt. „Es ist ein Teil Deutschlands. Heute sind wir multikulti.“ Der Fall des Eisernen Vorhangs sei ein Segen für die Vitalität der Gemeinde gewesen.

Der Blick hinter die Kulissen mit Bina Rosenkranz lohnt sich. Vom Tennisklub bis zu muslimischen Studenten – alle wollen hinter die Synagogenmauern blicken. In das Geviert, das durch seine hölzernen Stuhlreihen wie ein Kino aus den 1970ern anmutet. Viele wollen diese Geschichte(n) inhalieren und ihren Wissensdurst stillen. Thora, ewiges Licht, jüdische Feiertage, Speisevorgaben: Bina Rosenkranz spart bei ihren Führungen nichts aus, weicht keiner Frage aus. Natürlich kommt im Laufe des Jahres auch die typische Provokation: Haben die Juden Jesus ermordet? Bei einer Führung von Sekretärinnen des katholischen Stadtdekanats bleibt die dumme Frage aus. Aber die Damen wollen wissen, wie es die Juden heute mit dem Tier-Opferritus halten?

Schlachtopfer gibt es keine mehr. „Die Zeiten sind vorbei, wir sind keine archaisch-antiquierten Juden mehr“, erklärt Bina Rosenkranz den katholischen Damen, die ihre Worte dankbar aufsaugen und unisono denken: Hier wird man sich wieder bewusst, wie eng das Judentum mit unserer Kultur verbunden ist. Eine sagt zu der Synagogenführerin: „Solche Menschen, wie sie, sind so wichtig. Mit ihrer Arbeit wirken sie gegen den Antisemitismus. Dank Ihnen habe ich heute meine Wurzeln gespürt.“

Brücke in die Gegenwart

Wenn Bina Rosenkranz genau solche Momente erschaffen kann, ist sie zufrieden. Dann hat sie erreicht, dass Menschen das Judentum „nicht mehr so exotisch betrachten“. So hat sie eine Brücke in die Gegenwart geschlagen – mitten hinein in die Stadtgesellschaft. Und sie ist ihrer Vision ein Stück näher gekommen: „Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir eines Tages in Normalität zusammen leben können.“ Ohne Angst vor Gewalt. Und ohne strenge Wächter an der Pforte zur Synagoge.