Begeisterte Zuschauer, hervorragende Kritiken, Auszeichnungen und Preise und nun auch Einladungen zu Gastspielen nach Berlin und sogar ins ferne Russland: Seit sechs Jahren macht Axel Clesle Theater mit behinderten und nicht behinderten Menschen und kann sich nun über die künstlerische Anerkennung freuen.

Stuttgart - Wo liegt Ufa? Und wo Salawat? Günther, Gerhard, Normann, Heiko und Jürgen wissen es: In der russischen Teilrepublik Baschkirien am Ural. Am 20. Juni steigt das Quintett, begleitet von dem Sänger Robin von der Nikolauspflege und dem Breakdancer Maximilian, ins Flugzeug nach Ufa, um dort und in Salawat im Rahmen eines Unesco-Projektes mit Schülern aus Behinderteneinrichtungen Theater zu spielen. Denn die Fünf, ebenfalls körperlich und geistig gehandicapt, kommen aus den Werkstätten Esslingen-Kirchheim (WEK) und sind schon beinahe alte Theaterhasen.

 

Mit Auszeichnungen überhäuft

Sie brillierten als Darsteller in der Performance „Inclusio“, die 2016 im Theaterhaus gespielt wurde, und feierten im Februar wieder Erfolge auf der Bühne vom Friedrichsbau Varieté mit der Show „Konferenz der Erfinder“. Unter der Regie von Axel Clesle und zusammen mit den Akteuren der Theatergruppe „Hofschaumbühne“ des Bürgerhospitals und der Rapsoden der Kulturinitiative Bohnenviertel e. V. und, nicht zuletzt, Emil, Anastasia, Xenia und Arthur aus Salawat, die zum Ensemble stießen. Denen werden sie nun einen Gegenbesuch abstatten, um mit ihnen und vielen anderen Mitspielern die „Konferenz der Erfinder“ auf die Bühne zu bringen. Auf Deutsch und Russisch. Per Skype-Konferenzen und mit der schon in Stuttgart bewährten Dolmetscherhilfe von Venera Farganova, Koordinatorin und Leiterin des Unesco-Projektes in Ufa, ist alles schon perfekt auf den Weg gebracht.

Der Begriff Inklusion, das Miteinander von behinderten und nicht behinderten Menschen in allen Lebensbereichen, hatte sich im allgemeinen Sprachgebrauch noch gar nicht durchgesetzt, als ihn Axel Clesle mit Leben füllte. Der Grafiker, Autor und Regisseur (63) hat 2004 den Verein Kulturinitiative Bohnenviertel gegründet und 2006 dort in einem Hinterhof ein Sommertheater etabliert. „Das Bohnenviertel war ein sozialer Brennpunkt mit Drogenproblemen und schwierigen Jugendlichen. Ich wollte das Viertel beleben und die Menschen einbeziehen, denn ich glaube an die Kraft der Kunst“, erklärt Clesle. Der Erfolg gab ihm Recht: Viele der Problemkids hätten begeistert mitgemacht, das Drogenproblem habe abgenommen. Schon für die zweite Produktion mit dem Titel „Rapsody“ wurden Clesle und sein Verein 2007 vom Deutschen Kinderhilfswerk mit dem Preis „Die Goldene Göre“ ausgezeichnet.

Das Sommertheater wurde zur Tradition, die Truppe gab sich den Titel „Die Rapsoden“ und bekam plötzlich Zuwachs. „Als wir 2011 mal eine Vorstellung wegen Regen ausfallen lassen wollten, standen da elf Besucher, die bitter enttäuscht waren“, erzählt Clesle. „Sie kamen von der Nikolauspflege, waren sehbehindert und wollten am liebsten auch spielen. Und plötzlich waren die alle in unserer Theatergruppe.“ Dieses Engagement wurde 2014 mit dem Inklusionspreis des Landes belohnt, verbunden mit einer großzügigen Geldspritze vom Sozialministerium. Im gleichen Jahr ernannten Juroren Clesle zu einem der Stuttgarter des Jahres.

Stücke selbst entwickelt

Seit dazu noch die Akteure von den Werkstätten Esslingen-Kirchheim für Menschen mit Behinderungen und die Spielfreudigen vom Bürgerhospital dazu kamen, ist das Ensemble auf fast 40 angewachsen. Gerade kommt Dieter Janßen (56) von der Hofschaumbühne des Bürgerhospitals des Wegs. Er tritt in dem literarischen Quiz „Inclusio“ auf und ist mit Leidenschaft dabei, „seit ich das Theaterspielen entdecken habe“. Was ihn besonders begeistert: „Dass es der reine Spaß an der Freude ist. Wir haben alle Einschränkungen und müssen keinen Ehrgeiz entwickeln.“ Denn sie spielen natürlich nicht Goethes Faust und auch nicht den Sommernachtstraum von Shakespeare: „Sie haben keine vorgegebenen Rollen und Texte, sondern entwickeln ihr Spiel spontan und authentisch“, schildern Clesle und Andrea Lautenschlager, seine Partnerin im Leben und bei dieser theaterpädagogischen und inszenatorischen Arbeit. Erst mal müsse man die speziellen Fähigkeiten der Spieler herausfinden. Dann aber dürfen sich Kreativität und Phantasie frei entfalten. Jede Vorstellung falle daher unterschiedlich aus. Musik und Geräusche steuert der renommierte Musiker Wolfgang Schmid bei.

„Das sind ideale Bedingungen zum Spielen“, schwärmt Dieter Janßen. „Und gerade deshalb ist uns der Preis in den Schoß gefallen.“ Der Preis war der Tanz- und Theaterpreis der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg. Die Produktion „Konferenz der Erfinder“ überzeugte Theaterexperten wie Silvia Stammen von „Theater heute“ und die Intendantinnen Amelie Deuflhard (Kampnagel Hamburg) und Franziska Werner (Sophiensäle Berlin) so sehr, dass sie ihr einen Kritikerpreis verliehen. „Jetzt sind wir zum Gastspiel in den Sophiensälen eingeladen“, berichtet Clesle. „Anfragen kamen auch vom Staatstheater in Mainz, aus Moskau, Amsterdam und Japan.“ Jetzt aber ist erst einmal Ufa das nächste Ziel. Dahinter stecken das Unesco-Projekt „Berufliche Kompetenz im europäischen Kontext“ und eine begnadete Netzwerkerin aus Stuttgart: Gerdi Sobek-Beutter. Die emeritierte Professorin für Sprecherziehung an der Stuttgarter Musikhochschule knüpfte die Fäden.

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