Das Zusammenleben von Fußgängern, Rad- und Autofahrern ist nicht immer einfach. Dabei gibt es Regeln. Und im Idealfall eine Tugend: Respekt! Meint zumindest Lokalchef Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Irgendwo zwischen Kilometer 110,0 und 113,5 werden die Radprofis aus aller Herren Länder am Sonntag die Grenze überqueren. Spätestens um 15 Uhr sollen die bunt gewandeten Wanderarbeiter laut dem Logbuch der Deutschland-Tour-Organisatoren das gelobte Land erreichen, das die Hiesigen ganz einfach Region Stuttgart nennen. Dann fahren sie durch das malerische Wengerterstädtchen Bönnigheim, am Fuße des Strombergs entlang hinüber nach Erligheim und Löchgau, runter nach Besigheim, wo sie auf den Neckar treffen und schließlich an dessen Ufer gen Hessigheim streben.

 

Das Dorf am nördlichen Zipfel des Kreises Ludwigsburg ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Dort bilden Fluss, Terrassenweinberge und Felsengärten eine Landschaft, die so wild und gleichzeitig friedlich ist wie der Menschenschlag, der in dem Flecken lebt. Die Einheimischen heißen oft Nägele oder Eisele und haben die besondere Angewohnheit, dass sie das älteste Familienmitglied gerne zum Arbeiten auf die Straße schicken. Gefühlt an keinem anderen Ort der Region Stuttgart verkaufen im Sommer so viele Senioren Kirschen, Erdbeeren, Zwetschgen, Himbeeren, Träuble und Brombeeren an zu Straßenständen umfunktionierten Gartentischen wie in Hessigheim. Warum auch nicht? Alleinstellungsmerkmale sind gesuchte Dinge in diesen universellen Zeiten.

Die Autostadt hat als Stuttgarter Markenkern ausgedient

Doch wahrscheinlich werden die Radprofis auf der letzten Etappe ihrer Deutschland-Tour kaum Gelegenheit haben, über die netten Randnotizen der hiesigen Geschichte nachzudenken. Wie auch? Sie müssen auf ihren Weg achten, der sie (geplante Zielankunft zwischen 16.53 und 17.21 Uhr) mitten hinein führt in die eigens für sie abgesperrte Landeshauptstadt.

Eigentlich ist Stuttgart allein schon wegen seiner Lage im Kessel kein Dorado für Radfahrer – auch wenn der Oberbürgermeister den Verkehrsmix nachhaltig ändern will. Und ein bisschen etwas spürt man dank der E-Bikes auch schon vom Umschwung. Die Autostadt soll ja als Markenkern Stuttgarts ausgedient haben. Insgesamt ist der Pfad zur neuen Mobilität aber noch steinig. Und manchmal zweifelt man auch daran, ob der moderne Mensch überhaupt schon bereit ist für die neue Zeit.

Die Bürger als Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Wenn die Stuttgarter unterwegs sind, weiß man nie, ob sie einem als Dr. Jekyll oder als Mr. Hyde begegnen. Die Rollen wechseln mit der Art der Bewegung. Sitzt der Bürger im Auto, schimpft er auf Fußgänger, Radler, E-Biker, Roller- und Motorradfahrer, die er wechselweise für frech, ungezogen oder lebensmüde hält. Steigt er auf zwei Räder um, ärgern ihn die rücksichtslosen Autofahrer und unaufmerksame Spaziergänger, die sich nicht rechtzeitig entscheiden können, ob sie nach links oder rechts ausweichen sollen, wenn er von hinten kommt. Als Fußgänger wiederum nerven ihn alle anderen, weil sie in ihren Kisten Krach machen und stinken oder auf ihren Hightech-Velos so halsbrecherisch durch Wald und Schlossgarten heizen, dass man meinen könnte, Tour-de-France-Sieger Geraint Thomas sei unterwegs.

Ist er ja auch. An diesem Sonntag bei der Schlussetappe der Deutschland-Tour. Auf einer abgesperrten Strecke. Doch das ist und bleibt ein Ausnahmezustand. Normalerweise sind weite Teile des öffentlichen Raums mit seinen Straßen und Wegen selbstverständlich für alle da.

Um das Zusammenleben in diesem anarchischen Gewusel zu regeln, hat der Mensch übrigens Ampeln und Schilder erfunden. Diese enthalten Botschaften, die sogar eingehalten werden dürfen. Die meisten Kinder wissen das. Vielleicht kann sich diese Nachricht auch bald unter Erwachsenen herumsprechen.