Wohne lieber ungewöhnlich: Doris Kunkel lebt im Mehrgenerationenhaus „Wabe“. Die 80-Jährige kann sich über eine Panorama-Aussicht der Extraklasse freuen. Doch das ist für sie nicht der einzige Grund, ihre 58-Quadratmeter-Wohnung gegen nichts anderes eintauschen zu wollen.

Stuttgart - „Hier will ich nicht mehr weg.“ Doris Kunkel sagt dies ebenso glücklich und zufrieden wie bestimmt. Die 80-Jährige steht auf dem großen Balkon ihrer Dachgeschosswohnung und kann sich über eine Panorama-Aussicht der Extraklasse freuen: Der Blick reicht nicht nur bis zum Fernsehturm oder zur Solitude, sondern weit darüber hinaus. Das gesamte Umland liegt ihr zu Füßen.

 

Doris Kunkel wohnt im Haus „Wabe“ auf dem Burgholzhof. Doch so befreiend es ist, den Blick derart ungehindert schweifen zu lassen, ist es für sie nicht der einzige Grund, ihre 58-Quadratmeter-Wohnung gegen nichts anderes eintauschen zu wollen. Der entscheidende Grund ist die gelebte Nachbarschaft: Die „Wabe“ ist ein Mehrgenerationenhaus, das erste, das die Genossenschaft „Pro“ zusammen mit den Eigentümern 2001 auf dem Burgholzhof gebaut hat. Mittlerweile gibt es dort auch noch die Häuser „Mosaik“ und „Mobile“.

Rein äußerlich sind es ganz normale Mehrfamilienhäuser, wie andere auf dem Burgholzhof auch. Jung und Alt leben dort, Alleinstehende und mehrköpfige Familien. Allenfalls die Hinweise am Schwarzen Brett oder die Bilder im Treppenhaus, das einen wohnlicheren Eindruck hinterlässt als anderswo üblich, geben einen Hinweis darauf, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Haus handelt. Auch die Tatsache, dass zehn bis 15 verschiedene Nationalitäten in den insgesamt 66 Wohnungen der Genossenschaft leben, ist sicher nicht die Norm.

Eine Nachbarschaft in der man aufeinander achtet

Noch bemerkenswerter indes ist es, dass über alle Alters- und Ländergrenzen hinweg eine gemeinsame Idee diese annähernd 180 Menschen verbindet. Die Idee, dass man in der Nachbarschaft aufeinander achtet und einander hilft. Eigentlich, findet Doris Kunkel, die zu den Initiatoren des Wohnprojekts gehört und seit dem Bau der „Wabe“ dort lebt, sollte gelebte Nachbarschaft selbstverständlich sein und nicht eigens eines Vereins bedürfen. „Das könnte in jeder Gesellschaft funktionieren.“

Doch die Realität sieht anders aus. Die lebensfrohe und zupackende Frau hält nichts von rosaroten Brillen. Deshalb räumt sie ein, dass es natürlich auch bei ihnen Reibereien gebe, dass das Miteinander vieler Nationalitäten nicht immer einfach sei, dass die Messlatten für Lärm und Ruhe unterschiedlich seien, dass manche engagierter seien, andere weniger.

Kritik an der Politik

Einen Kritikpunkt hat Doris Kunkel allerdings; der gilt jedoch nicht den Bewohnern der Mehrgenerationenhäuser, sondern der Politik: Bis 2006 bekamen die Mieter auf ihre Anteile an der Pro-Genossenschaft die Eigenheimzulage, so dass die gewünschte Mischung aus Mietern und Eigentümern und das Miteinander von Menschen mit ganz unter-schiedlichem Hintergrund gut funktionierte. Inzwischen gibt es diese Zulage nicht mehr, weshalb die Kosten für die Mieter gestiegen sind und es schwieriger ist, Mieter zu finden, bedauert Kunkel, der der soziale Aspekt sehr wichtig ist. Dass in dieser tollen Lage aber überhaupt solche Häuser gebaut werden konnten, rechnet sie der Stadt hoch an. Schließlich, da macht sie sich nichts vor, könnten dort auch noble Villen stehen.

Ungeachtet dessen, dass das Ideal momentan nicht ganz der Wirklichkeit entspricht, funktioniert die Idee der gelebten Nachbarschaft. Da sind sich Doris Kunkel und ihre Nachbarin Maria Weber einig. Die 86-Jährige hat das erst jüngst wieder erlebt: Sie war in der Wohnung gestürzt und rief um Hilfe. Es dauerte nicht lange, bis zwei Nachbarn bei ihr waren. Doch nicht nur allein stehende ältere Menschen profitieren. Gerade auch für Familien sei das Mehrgenerationenhaus ideal, findet Doris Kunkel. „Da ist es dann keine Katastrophe, wenn die Kita mal geschlossen ist.“ Bei Bedarf springt die 80-Jährige ein.

Sie selbst, die sich nach dem Tod ihres Mannes für das Mehrgenerationenhaus entschieden hat, ist in der „Wabe“ unversehens zu einer Zweitfamilie gekommen (ihre eigenen Kinder und Enkel leben nicht in Stuttgart): Für die zehnjährigen Zwillinge Susanna und Sara sowie deren neunjährige Schwester Selena ist sie seit der Geburt die Oma; sie hat einst den Zwillingswagen organisiert, sie hilft bei den Hausaufgaben, spielt mit den Mädchen, teilt sich mit der Familie ein Auto, sie machen zusammen Ausflüge. Umgekehrt weiß die 80-Jährige, dass „ihre“ Familie ihr jederzeit zur Seite stehen würde. „Auch eine alte, allein stehende Oma braucht mal Streicheleinheiten“, sagt Doris Kunkel und strahlt.