Aus digitalen Fotos macht er analoge Unikate nach dem Blaudruckverfahren des 19. Jahrhunderts: Wilhelm Betz hat seine Kunstserie „Stuttgarts Junge Wilde“ mit vielen Kreativen im Remstal gefeiert. Der Promi-Auftrieb war groß.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart/Kernen - Bei Instagram werden täglich 80 Millionen Fotos geteilt. Im Farbenrausch schießt Austauschbares an uns vorbei. In der digitalen Reizüberflutung ist das Tempo die Währung. Die ganze Welt ist von Hektik besetzt! Die ganze Welt? Nein! Ein unbeugsamer Fotokünstler hält dagegen.

 

Womit er das tut und die Betrachter zu einer neuen Sichtweise führt, erklärt die Kabarettistin Tina Häusermann in ihrer Laudatio auf die Fotokunstserie „Junge Wilde“, auf die dritte Folge der Reihe „Stuttgarter Charakterköpfe“, vor 120 Gästen in der Vinothek Kern in Rommelshausen mit einem Zauberwort: Zeit! Wilhelm Betz nimmt sich viel Zeit fürs Fotografieren. Dies sieht man dem Ergebnis an, das Auge und Seele entspannt.

Unesco hat das Druckverfahren zum Kulturerbe erklärt

Noch mehr Zeit nahm sich der 64-Jährige, der im Ruhestand sein Fotostudium begonnen hat, nach dem Shooting. Da ging es erst richtig los. Erstmals hat Betz das uralte Druckverfahren Cyanotypie angewandt, jenen Edelblaudruck, den die Unesco im vergangenen Herbst zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt hat.

Aus einer digitalen Aufnahme wird ein Negativ erzeugt und auf einer Folie ausgedruckt. Dann streicht der frühere IBM-Mann nach Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert Aquarellpapier mit einer Flüssigkeit aus Ammoniumeisen und rotem Blutlaugensalz ein und belichtet dieses mittels UV-Strahlung. Jedes Foto wird bei der stundenlangen Arbeit zum Kunstwerk, zum Original, nicht wiederholbar.

Das neue Buch ist seit Montag im Handel

Für die älteste Technik zur Reproduktion von Fotos überhaupt hat Betz Junge und Wilde ausgewählt. Die feierten zahlreich in der Vinothek die Ausstellung und das Buch, das unter dem Titel „Charakterköpfe – Stuttgarts junge Wilde“ seit Montag im Handel ist. Menschen, die Gas geben und was bewegen wollen, sind auf Cyanotypie verewigt. Dabei sind junge Charakterköpfe wie die Winzer Christoph Kern und Moritz Haidle, Ringerweltmeister Frank Stäbler, Rennfahrer Laurents Hörr, Chocolatier Kevin Kugel, Comedian Özcan Cosar, Parkour-Athlet Andy Haug, Tim Bengel, ein Popstar der Kunst, Autorin Sue Glanzner, Sportlerin Marie-Laurence Jungfleisch. Die Begeisterung ist groß über die Arbeit eines Meisters des uralten Blaudrucks.

Der Altersschnitt der 29 porträtierten Frauen und 29 Männer liegt bei 34 Jahren – aber es gibt auch Ausreißer nach oben wie And.Ypsilon von den Fantastischen Vier und Heiko Volz, Autor zweier schwäbischen Kultstars und Stimme vom Äffle. Jung und wild ist nicht immer eine Sache des Alters. Im Textteil beschreiben die Befragten mit provokanten, witzigen, originellen Erkenntnissen den Charakter ihrer Heimat.

Feier wie beim Treffen einer großen Familie

Stuttgarts bunte Vielfalt, geballte kreative Kraft, hat in der Idylle des Remstals wie beim Treffen einer großen Familie gefeiert. Roxanne zauberte, Thabilé, Moni Ramoni, Patrick Loose machten Musik. Außerdem dabei: die Moderatoren Tatjana Geßler, Laura Winter und Vincent Schuster, Tamara Röske, Model mit Downsyndrom, DJane Alegra Cole, Magier Thorsten Strotmann, Sternekoch Marco Akuzun, Patrick Stupp, Chef von Rich & Royal, Paralympics-Goldjunge Niko Kappel, Sarna Rösner, Bundeschefin der Jungen Unternehmer, die Künstlerinnen Maria Lienhard, Christin Farr und Iris Caren von Württemberg, Christina Semrau, die Botschafterin des Kinderhospizes, Designerin Lissi Fritzenschaft, Galeristin Saby Lazi, die grün-schwarz-roten Politiker Brigitte Lösch, Stefan Kaufmann, Hannes Rockenbauch, Wirtin Laura Halding-Hoppenheit u.v.a.

Fernsehteams von der SWR-“Landesschau“ und von Regio-TV drehten bei der Release-Party. Der Künstler Rainer Simon hielt das Treffen mit dem Zeichenstift fest. Hinterher rauschten – so muss das heutzutage sein – Selfies von einem geselligen und hoch emotionalen Tag durch Instagram und Facebook. Selfies, die Werbung machen für ein Weltkulturerbe, das Innehalten hochhält.