Zum Abschluss der Familienserie gibt die Lebenslaufexpertin Jutta Allmendinger im Interview einen Ausblick in die Zukunft.

Stuttgart - Zum Abschluss der Familienserie gibt die Lebenslaufexpertin Jutta Allmendinger einen Ausblick in die Zukunft. Die Beraterin der Bundesregierung und Präsidentin des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung sagt: "Uns fehlt es an Mut, Zuversicht und verlässlicher Politik."

Frau Allmendinger, was ist für Sie privat der Wert der Familie?


Die Familie gibt neben Beruf, Bekannten und Freunden den privaten Zusammenhalt, der mich leben lässt.

Sie sehen Familie als Überlebensstrategie?


In jeder Hinsicht. Hätte ich kein Kind, würde ich mich im Job verlieren. Kind und Familie lassen mich jedoch auch mal sagen: Jetzt lass ich das liegen. Die Zeit mit Kindern macht Spaß, gibt Abstand, schützt vor Überforderung. Und auch die Gesellschaft kann nur mit Kindern überleben.

Kinder als Mittel gegen Burn-out - das ist eine ganz neue Sicht.


Viele Berufe sind wie eine Krake, die uns die Luft zum Atmen nimmt. Kinder sind ein wunderbares Gegenmittel. Sie bereichern, beruhigen, bilden, fordern. Ohne meinen Sohn wüsste ich weniger vom Inneren unseres Bildungswesens, nichts über Jugendkulturen, wäre von manchen gesellschaftlichen Kreisen abgehängt. Kinder sind nachhaltige Weiterbildung.

Die Zahl der Geburten sinkt, und die Lebenserwartung steigt. Die Generation zwischen Mitte 20 und Mitte 50, die sogenannte Sandwichgeneration, muss immer mehr Aufgaben übernehmen. Wie kann das funktionieren?


Ich gehöre zu dieser Generation. Es gab sie schon immer, geändert hat sich ihre Vielfalt. Mein Sohn ist 16, meine Mutter 80 - doch einige meiner Freundinnen sind schon Großmütter und pflegen ihre Großmütter. Andere haben keine Kinder und keine Eltern mehr. Neu ist auch das Aufgabenspektrum. Früher waren weniger Frauen erwerbstätig, heute kommt zu Kindererziehung und Pflege bei Frauen die Berufstätigkeit hinzu. Verändert hat sich zudem die zeitliche Perspektive: Kinder kommen später, ziehen später zu Hause aus, gleichzeitig führt die höhere Lebenserwartung der eigenen Eltern oft zu längerem Pflegebedarf. Wir brauchen deshalb einen passenden Umbau des Sozialstaats.

Da verwundert es doch kaum, dass in Deutschland immer weniger Kinder geboren werden.


Uns fehlt es an Mut, Zuversicht, verlässlicher Politik. Ein Beispiel aus der gegenwärtigen Haushaltspolitik: von heute auf morgen streichen wir Arbeitslosengeld-II-Beziehern 300 Euro Elterngeld, Übergangsgeld und einen mageren Rentenbeitrag. Damit kürzen wir den Etat alleinerziehender Mütter im ersten Lebensjahr des Kindes um ein Drittel. Das ist finanziell hart. Wichtiger jedoch ist: es zerstört das Vertrauen in eine stabile Politik. Die meisten Frauen in Deutschland warten auf den richtigen Augenblick, um Kinder zu bekommen - nur, diesen wird es nie geben. Wer auf ihn wartet, bleibt kinderlos.

Gab es die Aufgaben Erziehen, Arbeiten, Pflegen nicht schon immer? Was hat sich verändert?


Der Arbeitsmarkt: heute gibt es weniger stabile Beschäftigungsverhältnisse als früher. Die Qualifikationsanforderungen sind andere, eine Ausbildung in der Jugend reicht nicht mehr. Traditionelle Familienformen haben sich geändert, viel mehr Ehen werden geschieden. Auch die Gesetzeslage hat sich verändert: Frauen können nicht mehr davon ausgehen, vom Ehemann versorgt zu werden. Und sie wollen es auch nicht mehr. Die Erwerbsquote von Frauen ist gestiegen, sie lag 1960 bei 47 Prozent, heute liegt sie bei 66 Prozent. Und der demografische Aufbau unserer Gesellschaft ist anders, die Bevölkerungspyramide wurde zum Bevölkerungspilz.

Sind Kindererziehung und die Pflege von Angehörigen noch immer Frauensache?


Für Kindererziehung und Pflege sind weiter Frauen zuständig. Frauen und Männer ohne Kinder haben fast den gleichen Erwerbsverlauf. Frauen mit Kindern unterbrechen ihre Berufstätigkeit und arbeiten später meist in Teilzeit, Männer mit Kindern arbeiten dagegen mehr als zuvor. Bei Frauen entsteht ein Tal in ihrer Erwerbskurve, bei Männern ein Berg. Hinzu kommt, dass fast ein Fünftel der Frauen über 50 ihre Berufstätigkeit unterbrechen, um Eltern und andere Angehörige zu pflegen. Bei Männern gibt es das sehr selten. Die Folgen für Frauen sind bitter, sie haben weniger Geld als Männer, ihre Rente ist dürftig. Die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen sich also massiv verbessern.

Da hinkt Deutschland ja bekanntlich hinterher: Der Kitaausbau kommt auch nur schleppend voran.


In Deutschland hat nur jedes fünfte Kind unter drei einen Kitaplatz. Die meist starren Öffnungszeiten ermöglichen den Müttern nicht die Flexibilität, die der Arbeitsmarkt erfordert. Auch Kindergärten sind meist nicht ganztags offen, nur ein knappes Drittel der Schulen sind Ganztagsschulen. Über die Qualität haben wir noch gar nicht gesprochen.

Dreh- und Angelpunkt ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Was muss sich in Deutschland ändern, damit Betriebe familienfreundlicher werden?


Neulich zeigte mir ein Freund den Prospekt eines kleinen Unternehmens, "Mitarbeiter gesucht, Kinder willkommen", heißt es da. Deutschland braucht einen solchen radikalen Wandel. Im Moment tragen wir die Arbeit mit nach Hause und ins Wochenende, die Familie aber bleibt bei der Arbeit außen vor. Die Arbeit stört die Familie, wehe, wenn das umgekehrt ist. Viele Frauen "verstecken" noch immer ihre Kinder, denn Arbeitgeber trauen Müttern oft weniger zu. Mütter wollen aber gleiche Chancen wie Väter. Also müssen wir die Arbeitszeiten zwischen den Geschlechtern umverteilen und Teilzeit in Führungspositionen ermöglichen. Andere Länder machen das vor. Das geht nur, wenn Frauen wegen kleiner Kinder nicht drei Jahre aussetzen müssen.

Ist die Versorgung der unter Dreijährigen entscheidend für die Ausgewogenheit der Sozialversicherungssysteme?


Internationale Vergleiche zeigen, Länder mit einer hohen Frauenerwerbsquote haben auch eine hohe Geburtenrate. Die Erwerbsquote von Müttern hängt stark vom Betreuungsangebot für unter Dreijährige ab. Unser Sozialsystem ist auf Kinder ebenso angewiesen wie auf hohe Erwerbsquoten von Männern und Frauen. Die Entwicklung der Kinder leidet nicht, wenn sie außer Haus betreut werden. Im Gegenteil, Kinder etwa aus bildungsfernen Familien profitieren deutlich. Und der Abbau von Bildungsarmut hilft dem Sozialsystem.

Die Alterung der Gesellschaft schreitet voran. 2050 ist nur noch die Hälfte der Bevölkerung erwerbstätig. Was muss sich ändern?


Neben Kindern müssen wir auch Ältere willkommen heißen. Viele Frauen bekommen aber nach beruflichen Auszeiten auch wegen ihres Alters keine Chance mehr zur weiteren Berufsausbildung, obgleich sie noch 20 Jahre bis zur Rente haben. Auch die Weiterbildung liegt bei uns im Argen. Im internationalen Vergleich zeigt sich aber, dass Weiterbildung und präventive Gesundheitspolitik das Renteneintrittsalter erhöhen. Natürlich müssen wir auch den Jungen Sicherheit geben. Das Umlagesystem der Rentenversicherung greift künftig nicht mehr voll. Hier ist die Abschaffung des Rentenbeitrags für Hartz-IV-Bezieher Antizukunftspolitik. Es geht nicht um eine zwei Euro pro Hartz-IV-Jahr niedrigere Rente. Es geht darum, dass gezeigt wird: ihr könnt nicht vorsorgen und habt nichts im Alter. Es geht um Anrechnungszeiten, um den Zugang zu Rehamaßnahmen - und um die Verlagerung der später fälligen Sozialgeldausgaben auf die Kommunen. Dieses Geld fehlt dann bei der Kinderbetreuung.

Viele Unternehmen warnen vor einem drohenden Fachkräftemangel - wie gut sind heute die beruflichen Chancen von Frauen?


Es gibt immer mehr Jobs, die eine gute Ausbildung erfordern. Und es gibt - demografisch ebenso wie vom Ausbildungsniveau her gesehen - immer weniger Männer für diese Positionen. Es gibt mehr Frauen mit Abitur und mit Hochschulabschluss. Frauen haben meist bessere Noten und höhere kognitive Kompetenz. Man schreibt Frauen auch höhere soziale und emotionale Kompetenzen zu. Die beruflichen Chancen für Frauen sind also gut. Die Unternehmen sind auf sie angewiesen. Ob Frauen dann aber auch Führungspositionen offenstehen, ist eine andere Frage.