Der Ex-Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat wollte im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung keine Kassandra sein. Aber er zeichnete ein kritisches Bild für den Exportweltmeister Deutschland, die globale Finanzwelt und die soziale Gerechtigkeit.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Stuttgart - Nein, eine Kassandra wolle er nicht sein, sagte Peer Steinbrück zu Beginn seines Redaktionsgespräches mit der Stuttgarter Zeitung: „Es ist abwegig, Deutschland in den Sumpf zu reden.“ Und so sang der Ex-Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat zunächst das Loblied der deutschen Wirtschaft: „Nach wie vor weist unser Land erhebliche Pluspunkte im internationalen Vergleich auf. Wir haben ein bemerkenswert starkes und wettbewerbsfähiges industrielles Segment. Unsere kleinen und mittleren Unternehmen sind bewundernswert.“

 

Doch Steinbrück, der als pragmatischer SPD-Weltökonom und Elder Statesman ein wenig in die Rolle des von ihm hoch verehrten, verstorbenen Helmut Schmidt schlüpft, verbrachte am Ende doch mehr Zeit damit, die dunklen Wolken zu zeichnen, die sich über Deutschland zusammenbrauen: „Wir sind überaltert, unser Bildungssystem ist international deutlich unterfinanziert“, sagte er: „Wir sind sehr exportlastig und damit von einem sich derzeit eintrübenden Welthandel abhängig. Wir fühlen uns derzeit wie Alice im Wunderland, sind es aber nicht.“

Es gebe brisante Fragen, die angesichts der Flüchtlingskrise und der Bedrohung durch den Terrorismus des IS zu sehr unter den Tisch fielen. Dazu gehört für Steinbrück nicht nur die seiner Meinung nach von der Großen Koalition vernachlässigte Infrastruktur: „Die durchschnittliche Geschwindigkeit des Internets in Deutschland soll niedriger sein als in Rumänien.“

Ein ausgeglichener Haushalt soll keine Ideologie werden

Steinbrück würde bei dem von seinem CDU-Nachfolger Wolfgang Schäuble betriebenen Ziel eines ausgeglichenen Haushalts Abstriche machen: „Das Ziel, keine neuen Schulden zu machen ist im Sinne der Generationengerechtigkeit erstrebenswert, aber man darf keine Ideologie daraus machen. Wenn ich feststelle, dass Zukunft vertagt wird, dann muss ich auch zum Umsteuern bereit sein.“

Der SPD-Politiker sieht aber vor allem Sprengsätze in den Exzessen und den Ungleichgewichten des Kapitalismus. Sorgen macht Steinbrück, der als Finanzminister die Krise von 2008 erlebt hat, vor allem angesichts der Entwicklungen in China und der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB), die Tatsache, dass die internationalen Finanzmärkte immer noch nicht im Griff seien. „Die Gefahren, die von den regulierten Banken ausgehen sind ja nicht verschwunden, sondern in Schattenbanken verschoben. Der Derivatehandel, also der Handel mit Wetten auf zukünftige Preise, beträgt sagenhafte 600 Billionen US-Dollar. Das ist das Zehnfache der jährlichen globalen Wirtschaftsleistung. Das wird mir in den politischen Debatten zu schnell zur Seite geschoben.“

Keiner könne sagen, was eine neue Finanzkrise auslösen könnte. Aber sie könne sich wiederholen: „Schauen sie sich an, welche enorme Liquidität die EZB unter Mario Draghi in den Markt gepumpt hat. Dennoch saufen die Pferde nicht, wie der frühere SPD-Finanzminister Hans Apel mal gesagt hat. Wir haben in Europa kein Liquiditätsproblem, sondern einen Mangel an Strukturreformen.“ Es werde darum gehen, wie man die Zahnpasta namens Liquidität wieder in die Tube bringe. Auch die Griechenlandkrise sei nicht vorbei: „Ich rechne damit, dass das Thema eines Schuldenschnitts in zwei bis drei Jahren wieder die Tagesordnung erreicht.“

Die ungleiche Vermögensverteilung als massives Problem

Für brisant hält er die weltweit aufklaffende Schere bei der Vermögensverteilung – auch in Deutschland: „Aber die Debatte darüber ist schwierig. Wenn sie morgen ein Zitat von mir veröffentlichen, dass ich eine höhere Erbschaftsteuer verlange, um Bildung zu finanzieren, was glauben Sie, was Sie da für Reaktionen bekommen?“ Und dann legt er nach: „Es werden in Deutschland inzwischen jährlich private Vermögen von 250 bis 300 Milliarden Euro vererbt – das Aufkommen der Erbschaftssteuer ist lächerliche fünf Milliarden Euro, das sind zwei Prozent. Wie wäre es, wenn das Aufkommen der Erbschaftssteuer bei hohen Freibeträgen verdoppelt würde und daraus Bildungsmaßnahmen finanziert würden?“ Er stehe aber „einer Phalanx von Wirtschaftswissenschaften, Politikern und Journalisten gegenüber, die das alles gleich als typisch linken Ansatz verteufeln“.

Und hartnäckig verficht der Ex-Finanzminister auch das bisher nur von zehn EU-Staaten inklusive Deutschlands befürwortete Konzept einer Umsatzsteuer auf Finanztransaktionen, um die Wetten an der Börse weniger attraktiv zu machen. „Warum soll ich auf Babywindeln eine Umsatzsteuer zahlen, aber nicht auf Finanzgeschäfte?“, fragt Steinbrück, der eine solche Steuer auch für einen Beitrag zu einer handlungsfähigen EU hält. „Das erscheint mir vernünftiger als der von Bundesfinanzminister Schäuble zur Finanzierung der Flüchtlinge aus der Hüfte geschossene Vorschlag eines Aufschlags auf die Benzinsteuer. Wenn die deutschen Autofahrer den Eindruck gewinnen, dass sie zur Finanzierung der Flüchtlingsproblematik herangezogen werden, dann dürfte das die Stimmungslage nicht verbessern,“ sagte er.