Vor Lesern und Leserinnen der StZ hat der Europa-Korrespondent Markus Grabitz am Dienstagabend die EU in einem hellen Bild gezeichnet. Nur die Flüchtlingsfrage sei eine offene Wunde – und Günther Oettinger übrigens ein kleiner Star in Brüssel.

Stuttgart - Bei der Veranstaltung „StZ im Gespräch“ am Dienstagabend im Haus der Wirtschaft in Stuttgart hat Markus Grabitz (49) gleich am Anfang dargelegt, wie sich heimische Verwurzelung und der globale, kosmopolitische Blick doch selbst in der europäischen Hauptstadt Brüssel vermengen. Als er 2016 nach 16 Jahren als Korrespondent in Berlin mit seiner vierköpfigen Familie in den flämischen Teil von Brüssel zog, da merkte er schnell: „Wir müssen Flämisch lernen!“ Seine Kinder, sechs und sieben, beherrschen das Flämische inzwischen gut, er selbst spricht es leidlich.

 

Die Faszination, die sein Arbeitsplatz ausübt, konnte der vom stellvertretenden StZ-Chefredakteur Michael Maurer befragte Grabitz vor den rund 300 Zuhörern erklären. Noch mehr als Berlin sei Brüssel der Ort, an dem politsche Leitlinien entschieden werden. Seien es die Kohlendioxid-Grenzwerte oder die Abschaffung von Roaming-Gebühren beim Telefonieren – Entscheidungen hier wirkten direkt im Alltag der Bürger. „Ich betrachte Europapolitik nicht als Außenpolitik, sondern als verlängerten Arm der Innenpolitik.“ Insgesamt zeichnete Grabitz – „ich bin überzeugter Europäer“ – ein helles Bild von Europa, wenngleich er die Hemmnisse nicht verschwieg. So hat es das von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagene „Reform-Feuerwerk“ wegen der zögerlichen Haltung Deutschlands nicht gegeben und das EU-Parlament, das mit acht Fraktionen besetzt sei, in die 224 Parteien die Abgeordneten entsenden, sei schon wegen der Übersetzungen eine „sperrige Angelegenheit“. Es sei da schwierig, eine Parlamentsdebatte „packend“ zu schildern.

Exzellente Noten für Günther Oettinger

Aber in der Substanz sieht Grabitz Fortschritte der EU. Er bescheinigt der seit fünf Jahren amtierenden EU-Kommission eine passable Leistung: „Die wirtschaftliche Lage ist besser, die Griechen sind noch im Euro und die Flüchtlingskrise ist überwunden. Das ist eine Erfolgsstory“, sagte Grabitz. Was die Flüchtlinge anbelange, gebe es allerdings noch die „offene Wunde“ in der EU, wie denn eine Verteilung aussehen werde, „wenn der nächste Ansturm kommen sollte“. Wie aber geht es weiter mit der EU nach den Europawahlen vom 26. Mai? Laut Umfragen werden im EU-Parlament die beiden großen Blöcke, Konservative und Sozialdemokraten, ihre Mehrheit verlieren und auf Zustimmung der Grünen oder Liberalen angewiesen sein, sagte Grabitz. Die Rechtspopulisten könnten bis zu einem Drittel gewinnen – aber dennoch bleibe das Parlament damit „durchaus arbeitsfähig“.

Offen ist noch, zu welcher Fraktion sich Macrons „République en Marche“ zuordnen will. Und offen ist die Wahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten: Die meisten Wetten in Brüssel stünden gegen Manfred Weber (EVP), sagte Grabitz. Der holländische Sozialdemokrat Frans Timmermans habe Chancen und vielleicht zaubere das Parlament noch die couragierte Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager aus dem Hut. Apropos Kommissare: Grabitz plädierte dafür, dass es bei 28 Kommissaren bleibe, auch wenn er der Industriekommissarin Elzbieta Bienkowska beispielsweise attestierte, die laufe „wie Falschgeld herum“ und werde von der Wirtschaft nicht ernst genommen. Exzellente Noten vergab er an Günther Oettinger, der hätte sogar Chancen für eine dritte Amtszeit. Oettinger lege seine Worte nicht auf die Goldwaage, aber er verkörpere industriepolitische Kompetenz: „In Brüssel zieht man den Hut vor Oettinger. Wenn der die Korrespondenten einlädt, kommen 150 Leute, der Saal ist voll und es ist mucksmäuschenstill.“

Weiterentwicklung der EU

Was die Weiterentwicklung der EU anbelangt, glaubt Grabitz, dass vor allem eine Vertiefung einer gemeinsamen Außenpolitik von allen 28 gewünscht werden könnte. 28? Noch sind es so viele, aber wie lange die Briten noch dabei sind, ist fraglich. Bei der Europawahl werden sie noch mitmachen, für die Sozialdemokraten sei das wegen der vielen Labour-Abgeordneten ein Segen. Den Brexit bedauert Grabitz zutiefst: „Egal ob CO2-Grenzwerte oder EU-Urheberrecht, die britische Politik war der deutschen immer näher als die aus südeuropäischen Hauptstädten.“