Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)
„Was tun?“, würde Lenin jetzt fragen!
Gegen das Tempo auf den Kapitalmärkten hilft nur internationale Abstimmung. Wir haben keine Weltregierung, wir haben keine echte europäische Regierung – aber wir müssen in diese Richtung voran. Wie das gelingt, das weiß ich auch noch nicht. Wir müssen bereit sein, uns auf ganz neue Dinge einzulassen. Für die ganze Welt. Ich bin da nicht hoffnungslos, weil ich das Gefühl habe, es gibt so etwas wie eine informelle Koalition der Gutwilligen. Das sind die großen NGOs, die Kirchen, auch traditionelle politische Kräfte. Aber das hat noch kein System, keine wirkliche Handlungskraft. Das kann noch jeden Tag weggespült werden von Leuten, die völlig unverantwortlich mit Geld umgehen.
Deutschland ist im Wahlkampf. Aber die Parteien streiten lieber über kleine Verschiebungen nationaler Steuersätze als über globale Herausforderungen.
Die Debatte über das Thema Europa läuft. Da meinen einige, wir müssten uns separieren, um die eigene Haut zu retten. Andere sagen, wir müssen Europa ein stärkeres Gewicht geben. Zum letzten neige ich, ganz klar. Aber das ist im Wahlkampf nur bedingt wirksam.
Warum ist das so schwer?
Politiker haben die Sorge, ob sie das den Menschen vermitteln können. Ob die Zeit reif ist. Politik ist an Legislaturperioden orientiert, und als Politiker trauen wir uns nicht immer zu sagen: Damit das in zehn, zwanzig Jahren gut ausgeht, müssen wir Folgendes machen – Europa stärken, eine neue Form zeitgemäßer Demokratie aufbauen. Vielleicht müsste einfach einer kommen, der den Mut hat, die europäische Karte zu ziehen. Dass einer mal sagt: Leute, Europa ist das Thema Nummer eins.
Auf die Gefahr hin, dass er vom Wähler abgestraft wird?
Es könnte sein, dass er sich eine Niederlage abholt, in der Tat. Wer weiß das? Gerade in einer Volkspartei muss man immer aufpassen, dass die führenden Leute sich nicht zu weit von dem entfernen, was die große Mehrheit noch geneigt ist mitzutragen. Diese Spannung ist immer da – und manchmal ist es saugefährlich, vorneweg zu marschieren. Aber gleichzeitig gilt der Satz von Willy Brandt: Wenn du etwas hast, was sehr wichtig ist, aber noch nicht populär, dann musst du solange arbeiten, bis es populär ist. So gelangen Wahlrecht, Ostpolitik, Abrüstung und Einheit.
Nicht nur auf den Finanzmärkten, auch in den Medien wird die Umschlaggeschwindigkeit immer schneller. Kann man sich als handelnder Politiker diesem Tempodruck noch entziehen?
Mir persönlich haben die letzten vier Jahre, in denen ich als Abgeordneter nicht mehr in der ersten Reihe stand, gut getan. Weil ich mehr Zeit hatte für Grundsätzliches und Langfristiges. Natürlich ist man als Minister oder Parteivorsitzender ein Getriebener. Aber gleichzeitig ist das natürlich auch Adrenalin, macht das auch Spaß. Weil man in diesen Ämtern vieles zugespielt bekommt von Mitarbeitern, vom Apparat – und damit können sie schneller reagieren als andere. Aber Schnelligkeit ersetzt nicht Gründlichkeit und nicht Demokratie.
Wollten Sie jemals Kanzler werden?
Nein.
Warum nicht? Aus Angst vor der Eiseskälte, die einen in diesem Amt umweht?
Das nun nicht, obwohl ich schon einen Riesenrespekt vor diesem Amt habe. Als Kanzler muss man noch einmal ein ganzes Stück mehr Verantwortung übernehmen. Mehr, als ich mir damals zutraute, wirklich leisten zu können. Überhaupt wollte ich in meinem ganzen politischen Leben eigentlich nur zwei Sachen unbedingt werden: Abgeordneter, dafür habe ich gekämpft, und Generalsekretär der SPD. Alles andere waren Treffer auf Zufall. Im Politikerleben hängt viel vom Zufall ab. Wo Sie gerade stehen und wer Sie gerade kennt und mit wem Sie gerade geredet haben. Dann sind Sie dran oder auch nicht.
Als SPD-Vorsitzender sagten Sie, das sei das schönste Amt nach dem Papst. Nehmen Sie das zurück?
Nein, natürlich nicht. Aber dieses Amt wollte ich zunächst nicht. Gerhard Schröder hat mich dann dazu gebracht, sein Nachfolger an der SPD-Spitze zu werden. Wohlwissend, dass es für die Statik einer Regierungspartei problematisch ist, wenn Kanzleramt und Parteivorsitz nicht in einer Hand liegen. Aber die Eitelkeit, ein Nachfolger Willy Brandts zu sein, war dann doch zu groß. Vielleicht wird insgesamt in unserem Land die Partei zu wichtig genommen im Vergleich zum Parlament und zum Abgeordneten.
Das sagt ausgerechnet einer, der immer wieder knallharte Parteipolitik gemacht hat.
Ja, und trotzdem ist das so. Ein Kanzler ist für achtzig Millionen Menschen verantwortlich, ein Parteivorsitzender vielleicht für 500 000 Menschen. Das ist zwar auch eine ganze Menge, ich schätze das nicht gering. Aber es ist dennoch fatal, dass manche in Deutschland glauben, man könnte aus den Parteihäusern heraus Politik im Detail bestimmen. Das kann man nicht. Da kann man die große Linie vereinbaren. Aber die Sachen im Konkreten müssen in der Gesetzgebung gemacht werden.
Teilen Sie die häufig geäußerte Klage, dass die Qualität des politischen Personals immer schlechter wird?
Nein. Das ist zu pauschal. Es gibt in jeder Generation welche, die brennen, und andere, die es nicht tun. Ich treffe auf Politiker, die wollen eigentlich nichts verändern, die wollen die Welt nur verwalten. Das ist gefährlich. Herbert Wehner hat mir, als ich in Bonn als junger Abgeordneter antrat, einen Satz mit auf den Weg gegeben: „Pass auf, dass Du nicht austrocknest!“ Das ist für mich die eigentlich wichtige Kategorie geworden. Wenn man keine Leidenschaft mehr fühlt, etwas besser machen zu wollen, dann soll man aufhören. Ich höre auf, aber ausgetrocknet bin ich nicht. Wie viele andere auch nicht.