Nichts drin, aber wirkt: Der Medizinhistoriker Robert Jütte erklärte bei der Leser-Uni im voll besetzten Hörsaal der Uni Hohenheim, warum Placebos Schmerzen vertreiben oder manche Operation überflüssig machen.
Stuttgart - Es gibt einen Versuch, den kann man im Freundeskreis vielleicht selbst einmal ausprobieren: Man teilt bei einer fröhlichen Runde die Freunde in zwei Gruppen ein. Der einen Gruppe serviert man einen Wodka-Tonic, der anderen einen alkoholfreien Cocktail – wobei beide Gruppen glauben, dass sie einen alkoholischen Longdrink bekommen. Es wird sich zeigen, dass auch die antialkoholische Gruppe etwas enthemmter zu flirten beginnt, sich offener gibt oder leider mitunter auch aggressiver reagiert – eben die durch den Alkohol erwarteten Verhaltensweisen zeigt. Dies ist ein einfaches Beispiel für den Placeboeffekt, wie der Stuttgarter Medizinhistoriker Robert Jütte bei der Leser-Uni einführend erklärte. Allein der Glaube an die Wirkung lasse den Körper wie unter realen Bedingungen reagieren, berichtete Jütte, der seit 1990 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung leitet und sich seit Jahren mit der Heilkraft aus dem Nichts, dem Placeboeffekt, beschäftigt.
Man müsse zwei Definitionen des Placebos unterscheiden, erklärte Jütte zu Beginn seines kurzweiligen Vortrags. Klassischerweise sei ein Placebo ein Scheinmedikament in Form einer Tablette oder Infusion ohne aktiven pharmakologischen Wirkstoff, das äußerlich jedoch nicht von echten Arzneimitteln zu unterscheiden sei. Bei dem sogenannten echten Placebo handele es sich um Zuckerpillen oder eine Kochsalzlösung oder auch Akupunkturnadeln, die nicht eindringen können. Zum anderen gebe es sogenannte Pseudoplacebos. Darunter verstehe man echte Medikamente, die aber nicht wirken können, weil sie beispielsweise zu niedrig dosiert werden oder bei Erkrankung eingesetzt werden, für die sie nicht zugelassen sind. „Das teuerste und gefährlichste Placebo sind derzeit Antibiotika“, sagte Jütte. Diese Mittel würden beispielsweise bei grippalen Infekten verordnet, ohne dass der Arzt geprüft habe, ob die Infektion viral oder bakteriell bedingt sei – nur bei Bakterien wirke ein Antibiotikum. Den Effekt durch Medikamente könne man noch ausweiten, so der Medizinhistoriker. Auch die Erwartung des Arztes und des Patienten spiele eine Rolle, ebenso wie das Behandlungsumfeld: „Dies zeigt, dass der Placeboeffekt auch für den medizinischen Alltag wichtig ist“.
Placebo ist kein Hokuspokus mehr
Noch vor wenigen Jahren haben Mediziner den Palceboeffekt als Humbug belächelt. Mittlerweile ist jedoch durch zahlreiche wissenschaftliche Studien bewiesen, dass der angebliche Hokuspokus beispielsweise im Gehirn sichtbar nachgewiesen werden kann. „Im Kernspin zeigte sich, dass Placebos die Ausschüttung von Hormonen und Neurotransmittern in bestimmten Hirnarealen bewirken“, berichtete der 58jährige Wissenschaftler. Und ein Placebo könne auch unliebsame Nebenwirkungen haben. Interessanterweise scheint der Effekt der Wirkung aus dem Nichts kulturabhängig zu sein, wie eine Studie zeigt: „In Deutschland und Brasilien verabreichte man ein Mittel gegen ein Magengeschwür im Vergleich zu einem Placebo“, so Jütte. In Deutschland reagierten die Patienten zu 50 Prozent auf den Placebo, in Brasilien waren es nur sieben bis acht Prozent. Warum das so sei, wisse man nicht.
Überrascht reagierten die Leser auch auf den Effekt der Akupunktur: So hat eine Studie beispielsweise ergeben, dass es bei Knie- oder Rückenschmerzen egal ist, ob die Akupunkturnadeln an den vorgeschriebenen Punkten oder knapp daneben gestochen werden – die chinesische Medizin hilft, vielleicht auch dank des Placeboeffekts. Ebenso beeindruckend sind Scheinoperationen. Eine Studie vor einigen Jahren habe ergeben, so Jütte, dass eine Knieoperation, bei der man den Eingriff unter realen Bedingungen simuliere auch nach einem Jahr den Patienten gleich oder mehr geholfen habe als die echte Operation.
Erwartungen, Hoffnung und Glaube können Berge versetzen
Bei einer Placebo-Antwort spielt eine solche Vielfalt von Faktoren eine Rolle, dass man die Wirkung derzeit unmöglich wissenschaftlich fundiert erklären kann. Zwei unterschiedliche Erklärungsansätze gibt es: Beim assoziativen Ansatz gehe man von der sogenannten klassischen Konditionierung aus, so Jütte. Diese Erklärung geht auf den russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow zurück: Er hatte beobachtet, dass Hunde beim Anblick von Futter zu speicheln beginnen. Kombiniert man das Futter mit einem schrillen Ton, so reicht kurze Zeit später der schrille Ton und die Hunde sabbern auch ohne das Futter. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert das auch beim Menschen: Gibt man eine Spritze mit Wirkstoff, gepaart mit einem Reiz, tritt eine Wirkung ein. Nach einiger Zeit reicht der Anblick der Spritze. Den anderen Erklärungsansatz nennt man mentalistisch. Hier ist die Einbildungskraft gefragt: Erwartungen, Hoffnungen und Glaube können gesundheitlich gewissermaßen Berge versetzen. Dazu passt auch die Übersetzung des Begriffs Placebo: „ich werde gefallen“.
Inzwischen werde offen darüber diskutiert, ob und wie man den Placeboeffekt in der Schulmedizin einsetzen könne, berichtete Jütte. Auch ethisch sei die bewusste Anwendung vertretbar, so die Position der Bundesärztekammer, die sich unter Jüttes Leitung mit dem Placeboeffekt beschäftigte. Scheinmedikamente seien vertretbar, wenn es für den speziellen Fall keine geprüfte Therapie gebe, der Patient nur geringe Beschwerden habe und Aussicht auf Erfolg der Behandlung bestehe. Und auf eine Aufklärung des Patienten, so betonte Jütte, dürfe nicht verzichtet werden.
Hier finden Sie die Videos zum Vortrag über die Chancen und Risiken der Energiewende und den über die Wirkung von Placebos.
Wegen des großes Interesses hatte sich die Redaktion entschlossen, die beiden Vorträge per Livestream im Internet zu dokumentieren. Auch über Twitter kann das Wichtigste zu den beiden Vorträge nachgelesen werden: Unter dem Namen @StZ_Live und dem Schlagwort (Hashtag) #Leseruni hat die StZ die wichtigsten Informationen rund um die Leser-Uni aus dem Hörsaal gezwitschert.