Gerald Fingerle zählt zu den wichtigsten Sammlern auf dem Gebiet der Bauhaus-Objekte. Ein Besuch anlässlich des Bauhaus-Jubiläums 2019 im kunstvollen Chaos des enthusiastischen Esslingers.

Stuttgart - Sein Name ist Fingerle, Gerald Fingerle. Wenn irgendwo in Deutschland, egal ob auf einem Flohmarkt oder in einem Auktionshaus, ein wichtiges Objekt der Zwischenkriegsmoderne auf den Markt kommt, dann hat er immer seine – Finger – mit im Spiel.

 

So wie neulich in München, als bei Quittenbaum Kunstauktionen eine seltene Version des Bauhaus-Schachspiels von Josef Hartwig für 50 000 Euro – und damit das Fünffache des Schätzpreises – versteigert wurde. Auch wenn Fingerle am Ende überboten wurde, so brachte er doch während des fünfminütigen Bietergefechts einen wichtigen deutschen Bauhaus-Händler, der letztlich den Zuschlag bekam, fast zur Schnappatmung. Eine Woche zuvor, beim Auktionshaus Koller in Zürich, blieb er hingegen Sieger.

Fingerle holte sich den Servierwagen von Alfred Roth, einem Schweizer Architekten und Wortführer der Moderne, der als Bauleiter die Arbeiten am Corbusierhaus in der Weissenhofsiedlung dirigierte, für rund 60 000 Franken an den Neckar. Geschätzt wurde er auf gerade mal 3 000.

„Ich habe nur entschieden: Ich kauf’s!“

Jetzt ist das Wägele von Roth also in Esslingen. In Oberesslingen, um genau zu sein. „Jeder, der mich besucht und davorsteht, ist ein bisschen entsetzt ob dieser Bastelarbeit. Wir haben ein Teilchen hier, ein Teilchen da, und dann basteln wir noch ein paar Kinderwagenräder dran. Das ist schon recht frech gewesen vom Roth, ein großer Wurf. Mir hat der Barwagen immer gefallen, deshalb musste ich ihn auch haben. Und darum war auch der Preis für mich nicht relevant. Ich habe nur entschieden: Ich kauf’s! Natürlich wusste ich, dass es gewisse Gegner geben würde – und habe mir auch ein Limit gesetzt. Bisher konnte ich noch immer in meinem Leben das von mir selbst gesetzte Limit einhalten.“

Die Sammellust finanziert Fingerle, der so gut wie nie weiterverkauft, mit der Firma Julius Fingerle & Söhne, die er von seinem Vater übernommen hat. Und die ein Vierteljahrhundert älter ist als das Bauhaus und darüber hinaus ein grundsolider, mittelständischer Bestandteil des schwäbischen Wirtschaftswunders. Die Firma macht Oberflächenbeschichtungen für alle großen Hersteller der Automobilindustrie, früher hat man Spielzeug von Märkle veredelt oder Stuhlgestelle von Egon Eiermann ins galvanische Bad geschickt. Hier, direkt am Neckar, an der Fritz-Müller-Straße, haben sich Tüftler, Ingenieure und Sonderlinge wie Fingerle niedergelassen. Seinen Firmensitz erkennt man gleich: Weil ein Poster vom Berliner Bröhan-Museum an der Glasfront des Entrees hängt und daneben so prominent museale Freischwinger stehen, dass man Fingerle bitten möchte, die doch besser wegzuräumen. Der Einbrecher wegen. Aber die interessieren sich in dem Viertel – Gott sei Dank! – nur für tonnenschwere Industriemaschinen.

„Ich verstehe es ja auch nicht. Ich mache es einfach.“

Das ist der Humus, in dem Fingerle groß wurde, heute wirkt und auf einer 150 Quadratmeter großen Fabriketage mit Nebenräumen lebt und sammelt. Sein erster Kunstkauf war eine Serigrafie des französischen Malers Vasarely. „Ich war 14 und mit meinen Eltern in einer Ausstellung in der Villa Merkel. Die riesigen Vasarely-Gemälde dort beeindruckten mich. Und in der Städtischen Galerie gab es Serigrafien zu kaufen – für 3 000 Mark. Von meinem ersparten Taschengeld und etwas Zuschuss meiner Eltern habe ich eine erstanden.“

Was hätte Fingerle senior, allein der Name verpflichtet zur schwäbischen Sparsamkeit, zur heutigen Sammellust gesagt? „Mein Vater hat selbst auf Auflösungen Kunst gekauft, aber er hätte mich wohl für verrückt erklärt, hätte er erfahren, wie viel ich für den Servierwagen ausgegeben habe. Er hätte es nicht verstanden. Ich verstehe es ja auch nicht. Ich mache es einfach. Irgendwann rennst du als geborener Sammler einfach los. Schon als Junge habe ich bei meinem ersten Antikmarkt mitgemacht, als Juniorhändler. Keksdosen habe ich verkauft. Und als ich das Standgeld bezahlen sollte, hatte ich noch nicht genug eingenommen. Damals habe ich Begehrlichkeiten entwickelt.“

Wie eine Wunderkammer der Moderne

Die stapeln sich mittlerweile tausendfach in seinem Firmensitz in Esslingen und am Fuß der Schwäbischen Alb, wo es ein weiteres, 600 Quadratmeter großes Lager voll ersteigerter Objekte gibt. Deren Bestand stetig wächst. Gerade erst hat Fingerle einen anderen deutschen Sammler um sein Lebenswerk erleichtert und ihm ein paar Hundert Freischwinger abgeluchst. Wer sein Stuhllager nie so richtig in den Griff bekommt, der ist ein echter Sammler. Sagt man. „Was Beuys gemeint hat, fand ich auch stark: ‚Sammeln heißt, große Stapel anzulegen.‘ Die Sammelei ist eine sehr intime Geschichte. Ich muss zuerst immer an meinen Objekten riechen“, gesteht Fingerle. „Es gibt natürlich Sammler, die konzeptionell ganz anders vorgehen und dies oder das gern besitzen oder zeigen möchten. Aber ich entdecke immer wieder Stücke, vor denen ich stehe – und die ich dann einfach haben muss, die ich mit auf eine Insel nehmen würde. Wie eben dieses Wägele vom Roth.“

Es ist die Wunderkammer der Moderne, die ihn antreibt. Die klassische Wunderkammer der Renaissance findet er zwar auch toll, aber Fingerle fasziniert eben die Zeit der 1920er-Jahre. Ein großes Feld seiner Passion ist deshalb, neben deutscher Keramik, auch die historische Technik. Aus funktionalen wie ästhetischen Gründen. Und dann holt er plötzlich ein Gerät hervor, das aussieht wie eine prähistorische Drohne, und predigt: „Davor betest du: Das ist ein Stoßkreis.“ Ein Stoßkreis? „Ja, ein Löschfunkensender von AEG. So etwas ist brutalst selten. Aber das erkennt ja nicht jeder. Er hat mich fast nichts gekostet, ich hab ihn irgendwo bei Bremen gefunden. Unter Freaks bringt der locker 10 000 bis 15 000 Euro.“

Wie viel ist man bereit, für besagten Inselmoment auszugeben? „Ein großer Sammler hat mal gesagt: Er kann Sammler, die nicht notorisch überschuldet sind, nicht ernst nehmen.“