Unternehmen in den USA und in China nutzen die Chancen der Digitalisierung besser als ihre deutschen Wettbewerber, bedauern Experten bei der StZ-Podiumsdiskussion.

Stuttgart - Björn Bloching klingt ein wenig verzweifelt. „Damit kann man alles plattmachen“, klagt der Digitalexperte der Unternehmensberatung Roland Berger, als bei der Diskussionsrunde in der Rotunde der L-Bank in Stuttgart das Beispiel aus China erzählt wird: Social Scoring, so nennt sich ein Projekt der Regierung. Durch die Vernetzung von Datenbanken werden dabei unter anderem die Kreditwürdigkeit, das Strafregister sowie das gesellschaftliche und politische Verhalten der Menschen ermittelt und zu einem Reputationswert zusammengefasst. Dieser Wert kann beispielsweise bei der Wohnungszuweisung den Ausschlag geben. Für Bloching ist diese „exzessive Kategorisierung“ aber keine Frage der Technologie, sondern des Gesellschaftssystems.

 

Ihn stört überhaupt nicht, dass solche Big-Brother-Szenarien in Deutschland und Europa diskutiert werden. Er findet es nur falsch, dass die Konzentration auf die Risiken der Digitalisierung den Blick auf die Chancen trübt. Dafür findet er bei der Veranstaltung von Stuttgarter Zeitung, Roland Berger und L-Bank zu dem Thema „Vernetzt, individuell, transparent: Wie verändert Technik unser Leben?“ durchaus Zustimmung. Die Welt der digitalen Plattformen, der Vernetzung und des autonomen Fahrens stimmt auch Petra Foith-Förster vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) keineswegs pessimistisch – im Gegenteil: „Ich habe mehr Angst vor menschlichen als vor technischen Fehlern“, sagt sie.

„Europa diskutiert, und in China passiert es“

Aber aus ihrer Praxis weiß sie auch, wenn es zum Beispiel um das Thema Industrie 4.0 geht: „Die erste Frage eines deutschen Mittelständlers zielt auf die Datensicherheit. Asiaten und Amerikaner fragen hingegen zuerst, was man mit den Daten machen kann. Dann erst kommt die Frage nach der Sicherheit.“ Auch Christian Uhl, Chef von Smartrac, einem Hersteller von Funketiketten (RFID-Chips), bedauert: „Bei uns wird zu wenig ausprobiert.“ Ausprobiert wird in Japan gegenwärtig zum Beispiel unter der Regie des Industrieministeriums Miti, ob sich Supermärkte durch die Ausstattung aller Produkte mit diesen Funketiketten ohne Personal betreiben lassen. Und mit Blick auf China sagt Uhl: „Europa diskutiert, und in China passiert es.“

Für Stefan Kölbl, den Chef der Prüforganisation Dekra, hat die in Deutschland vorherrschende Skepsis aber durchaus einen realen Hintergrund. Er verweist auf die veränderte technische Fahrzeugprüfung in den Zeiten der Digitalisierung: „Wir können gar nicht sicher sein, wie ein Auto reagiert. Denn es ist ohne unser Zutun möglich, eine neue Software für die Motorsteuerung aufzuspielen“, sagt Kölbl. Für die Prüfer ist das Auto nach seinen Worten dann eine Blackbox. Und das hält er für heikel. Deshalb lehnt der 50-Jährige auch das Ansinnen der Autohersteller ab, die Hoheit über die von Sensoren eingesammelten Daten haben zu wollen, die Autofahrer aber für mögliche Fehler haften zu lassen.

Die Bürger müssen sich auch an die eigene Nase fassen

Dass Europa sein vorsichtiges Herantasten an den Fortschritt mit einer womöglich geringeren Innovationsgeschwindigkeit bezahlt, stört den Dekra-Chef nicht, weil auf diese Weise Akzeptanz gewonnen werden kann. Akzeptanz wird aus seiner Sicht dann gewonnen, wenn der Nutzer sicher sein kann, dass er ein Angebot ohne Bedenken nutzen kann. „Abgesichert ist dieser Anspruch heute aber noch nicht.“

Moderator Joachim Dorfs, Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung, will wissen, wie sich die Datenhoheit des Verbrauchers herstellen lässt. Constanze Kurz vom Chaos Computer Club ist überzeugt, dass die erforderliche Transparenz vom Staat erzwungen werden muss, wenngleich sie einräumt, dass sich die Bürger „auch an die eigene Nase fassen müssen“, weil sie so sorglos mit ihren Daten umgehen. Auch Smartrac-Chef Uhl sagt, dass die Politik gewissen Praktiken einen Riegel vorschieben müsse. Aus seiner Sicht ist es durchaus möglich, dass Europa die Datensicherheit als Wettbewerbsfaktor einsetzt, sozusagen als eigenes Geschäftsmodell.

Constanze Kurz hat zum Beispiel bei den Facebook-Anhörungen im US-Kongress mit Interesse gehört, wie wohlwollend in dem Land über den europäischen Datenschutz gesprochen wurde. Der Frage von Dorfs nach den Geschäftsmodellen der Zukunft nähert sie sich aber nur mit Widerwillen: „Das ist nicht meine Frage. Mir geht es darum: Wie leben wir damit?“, sagt sie.