Wie kommt der Südwesten durch die Krise? Finanzminister Danyal Bayaz, IHK-Chefin Susanne Herre und Marcus Berret von Roland Berger sind zuversichtlich, sehen aber viele Schwächen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Viele erfahrene Manager sagen, eine Misere wie die aktuelle hätten sie in ihrem bisherigen Berufsleben noch nicht erlebt. „Das Besondere ist die Überlagerung verschiedener Krisen“, so umschreibt es Susanne Herre, die neue Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart: explodierende Energiepreise, Lieferengpässe, horrende Inflation.

 

Wie kommt das industrielle Musterländle Baden-Württemberg durch diese multiplen Schwierigkeiten? Mit welchen existenziellen Herausforderungen haben die Unternehmen im Land zu kämpfen? Tut die Landesregierung genug für die Wirtschaft und verschärfen ihre Unterlassungssünden die Misere noch? Diese Fragen hat Joachim Dorfs, Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung, am Donnerstag im Rahmen einer gemeinsam mit der Unternehmensberatung Roland Berger und der L-Bank veranstalteten Podiumsdiskussion mit einer illustren Runde erörtert: neben Herre saßen Baden-Württembergs Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) und Marcus Berret, Global Managing Director bei Roland Berger, mit auf dem Podium. Stefan Wolf, Präsident von Gesamtmetall und Vorstandschef des Autozulieferers Elring-Klinger, musste wegen der Metall-Tarifverhandlungen kurzfristig absagen.

Politik „vor einer Nebelwand“

Die Politik stehe „vor einer Nebelwand“, sagt Bayaz. „Wir wissen heute nicht, was in ein oder zwei Wochen ist.“ Es gehe jetzt nicht nur um kurzfristige Hilfen. Man müsse „zielgenau, aber nicht mit der Gießkanne“ helfen. Der Minister rechnet mit „zwei schwierigen Jahren“, die uns bevorstünden. Wichtig sei es, „dass wir die Insolvenzwelle verhindern“.

Die baden-württembergische Landesregierung hat in der vergangenen Woche ein eigenes Hilfsprogramm für die Wirtschaft im Südwesten angekündigt. Sie will damit kleinen und mittelständischen Unternehmen eine Brücke über die „Winterlücke“ bauen, die sich auftut, bis die von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Energiepreisbremse im Frühjahr voll wirksam wird. Dazu zählen zinsverbilligte Darlehen und Tilgungszuschüsse.

Energiepreise sind „Toprisikofaktor Nummer eins“

Droht ein Gasmangel im Winter? Die IHK-Managerin Herre sieht die Lage nicht pessimistisch. Sie geht im Moment davon aus, dass die Wirtschaft ohne katastrophale Szenarien über diesen Winter komme. Das Problem für viele Unternehmen seien jedoch die Energiepreise. Herre nennt das den „Toprisikofaktor Nummer eins“. Auch der Unternehmensberater Berret glaubt „zu 99 Prozent“ an einen Winter ohne Blackout oder Gasnot. Die Versorgungslage werde „nicht zum Riesenschock werden“. Herre blickt skeptisch auf die Gaspreisbremse. Ob die Wirtschaft diese Hilfe nutzen werde, hänge an der Komplexität der Verfahren – und, so fügt sie hinzu, am „Schwert der Rückzahlung“. Akut sehe sie nicht die Gefahr einer Insolvenzwelle, dringt aber darauf, dass die Modalitäten der in Aussicht gestellten Staatshilfen schnell klar sein müssten. Sie sagt: „Da wäre jetzt dringend der Turbo zu zünden.“

Finanzminister Bayaz warnt, in Deutschland sei eine „Anspruchshaltung kultiviert“ worden – er meint den Glauben, jegliche Krise mit möglichst viel Geld bewältigen zu können. Bayaz mahnt: „Der Staat wird das alles nicht kompensieren können.“ Die Frage der finanziellen Leistungsfähigkeit des Staates dürfe man dabei nicht aus den Augen verlieren. „Irgendwann kommt mal die Rechnung nach Hause“, so die Warnung des Finanzministers. Das Geld für die Staatshilfen werde man „nicht von der Pflegekraft oder der Kassiererin bei Rewe holen können“. In dieser Hinsicht würde er sich „mehr Ehrlichkeit wünschen“. Bayaz verweist auch auf „große Konzerne in der Region“, die während der Pandemie zunächst Kurzarbeitergeld kassiert und später Rekordgewinne gemeldet hätten. Am Ende der akuten Krise werde man da „die Frage der sozialen Balance neu stellen müssen“. Auch Berret räumt ein, es müsse „auch zu einer Umverteilung kommen“.

Gordischen Knoten der Bürokratie aufdröseln

Der Blick in die Zukunft klingt bei den drei Experten nicht so selbstgewiss wie die Analyse der akuten Verhältnisse. Unternehmensberater Berret befürchtet: „Wir verlieren den Anschluss mit unserem deutschen Geschäftsmodell.“ Die letzten drei, vier Jahre hätten „schonungslos offengelegt, wo unsere Schwächen liegen“. Deutschland habe bei dringenden Investitionen in die Infrastruktur „komplette fünf Jahre verloren“. Zwei Jahrzehnte sei „unter unseren Verhältnissen investiert“ worden. Die Investitionslücke beziffert er auf 500 bis 700 Milliarden Euro.

Bayaz fügt hinzu: „Die Achillesfersen potenzieren sich noch im Geschäftsmodell von Baden-Württemberg.“ Es sei „kein Naturgesetz“, dass der Südwesten das ökonomische Kraftzentrum der Republik bleibe. Berret beklagt, die Deutschen seien „zu veränderungsresistent“. Herre fordert eine „massive Beschleunigung der Genehmigungsverfahren“. Bayaz sagt, es gehe da „nicht um den gordischen Knoten, den man durchschlägt, sondern um richtige Kärrnerarbeit, den Knoten aufzudröseln“.