Der britische Schriftsteller John Lanchester nimmt in seinem neuen Buch zur Finanzkrise unbequeme Positionen ein. Auch Merkels europapolitischer Kurs wird kritisiert.

Oxford - Im Christ Church College in Oxford, Großbritannien, gehen die Uhren anders – und das nicht nur im übertragenen Sinne. Fünf Minuten weicht der Chronometer am Tom Tower, dem Glockenturm des Colleges, von der Greenwich-Zeit ab, weil die konservative Leitung der ehrwürdigen Bildungsinstitution sich im 19. Jahrhundert weigerte, der Umstellung von einer Vielzahl lokaler Zeiten auf einen landesweiten Standard zu folgen. Und weil man hier Wert auf Traditionen liegt, gilt das mit Einschränkungen bis heute. So schlägt die Glocke am Tom Tower abends nicht um 21 Uhr, sondern erst um 21.05 Uhr. Natürlich lassen sich solche Eigentümlichkeiten vermarkten. Der Tourismus floriert, erst recht, seitdem die Harry-Potter-Filme hier gedreht wurden.

 

Es liegt aber nicht an den ungewöhnlichen Zeitverhältnissen, dass John Lanchester nicht pünktlich zum Interview erscheint. Und er verspätet sich wegen widriger Witterungsverhältnisse auch nicht nur um fünf Minuten, sondern um mehr als eine Stunde. Der britische Schriftsteller und Journalist, der eben in jenem Christ Church College sein neues, jetzt bei Klett- Cotta auch auf Deutsch erschienenes Buch präsentiert, ist ohnehin kein bornierter Traditionalist. Eher dürfte er „Old Labour“ nahestehen, also der alten englischen Sozialdemokratie vor der Ära von Tony Blair.

Lanchesters neuer Streich trägt einen Endlostitel: „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt: Die bizarre Geschichte der Finanzen“ heißt das Werk. Es ist ein Sachbuch, das die Ursachen und Konsequenzen der Finanzkrise analysiert. Für die zwei grundsätzlich verschiedenen Regulationsformen, die der Kapitalismus nach 1945 erfahren hat, findet er in seinem Buch ein hübsches Bild: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hätten die westlichen Demokratien versucht, das Potenzial der Marktwirtschaft für wirtschaftliches Wachstum zu nutzen, um so breiten Bevölkerungsschichten ein besseres Leben zu ermöglichen. Der „Düsenantrieb des Kapitalismus“ sei vor den „Ochsenkarren der sozialen Gerechtigkeit“ gespannt worden.

Der Düsentrieb folgt eigenem Tempo

Dieses Modell des „New Deal“ oder, in seiner deutschen Ausgabe, der „sozialen Marktwirtschaft“ wich in den 1970er Jahren dem Programm des Neoliberalismus, das maßgeblich von Ökonomen wie Milton Friedman oder Friedrich August von Hayek inspiriert war. „Der Düsenantrieb wurde vom Ochsenkarren losgespannt und man erlaubte ihm, seinem eigenen Tempo zu folgen und davonzubrausen. Das Resultat war ein nie da gewesener Aufschwung, an dem zwei Dinge von Grund auf nicht stimmten: Er war weder gerecht, noch würde er sich aufrechterhalten lassen“, schreibt Lanchester. Es ist offensichtlich, welchem Modell seine Sympathien eher nicht gehören: dem Neoliberalismus.

Eigentlich lag dem Briten die Beschäftigung mit ökonomischen Fragestellungen eher fern, woraus er selbst keinen Hehl macht. Doch bei den Recherchen für seinen im vergangenen Jahr erschienenen Roman „Kapital“, der das Großstadtleben in London schildert, hat sich Lanchester ins Börsen- und Finanzwesen eingearbeitet. „Wenn man heute einen Roman über London schreiben möchte, dann kommt man darum gar nicht herum“, sagt er. Zu sehr hätte der Boom der Finanzindustrie in den vergangenen Jahrzehnten das Stadtbild und die Bewohner geprägt.

Also wälzte Lanchester, der selbst Geld verloren hat, als in den achtziger Jahren in England eine Immobilienblase platzte, Texte von Ökonomen, etwa von John Maynard Keynes aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch von zeitgenössischen Wissenschaftlern wie Paul Krugman, der zu den profiliertesten Gegnern des Marktradikalismus zählt. Herausgekommen ist am Ende ein Buch, das im Plauderton verfasst ist, trotzdem aber lehrreich ist und klare Positionen formuliert.

Das kann nicht gut gehen

So entwickelt Lanchester Standpunkte, die hierzulande, wo die auflagenstärkste Tageszeitung gegen die „Pleitegriechen“ zu Felde zieht, nicht überall auf Gegenliebe stoßen dürften. Als stärkste ökonomische Macht in Europa dürfe sich Deutschland nicht länger einfach wegducken, sondern müsse Verantwortung übernehmen. „Wenn ein Land konstant große Überschüsse erzielt, wie eben Deutschland, andere dagegen permanent im Defizit liegen, kann das nicht gutgehen“, sagt er.

Nur fehle in Berlin die Einsicht, dass ein fundamentaler Richtungswechsel geboten ist; in seinem Buch bringt er das griffig auf den Punkt: „Das Problem ist, dass man in Deutschland allem Anschein nach nicht geneigt ist, weniger deutsch zu sein – was heißen soll, sich höhere Gehälter auszubezahlen oder mehr zu konsumieren und mehr zu importieren.“ Genauso wenig sei man in Berlin gewillt, permanent den Südeuropäern aus der Misere zu helfen. Daher drohe, so Lanchester, langfristig der Zerfall des Euroraums. Die Alternative wäre die deutsche Bereitschaft, strukturelle Reformen in Kauf zu nehmen, die dem ökonomischen Übergewicht des Landes entgegenwirken.

Auch das von Angela Merkel propagierte Leitbild der „schwäbischen Hausfrau“, die sparsam danach schaut, dass die Ausgaben nie die Einnahmen übersteigen, greift Lanchester als irreführende Metapher an: „Regierungen sind keine Privathaushalte. Die Annahme, man könne sich Wohlstand zusammensparen, lässt sich unmöglich von der Welt unserer persönlichen Finanzen auf die Sphäre des Staates übertragen.“ Das Austeritätsprogramm, dem Länder wie Griechenland unterworfen werden, würge jedes Wachstum ab. Lanchesters Gegenvorschlag: „Zuallererst müsste man einen mittelfristigen Plan aufstellen, der Wachstumsanreize setzt und höhere Ausgaben vorsieht, um die Konjunktur anzukurbeln.“

Risikokalkulation mit Schönheitsfehlern

Sehr unterhaltsam sind die mit zahlreichen Anekdoten angereicherten Passagen, in denen Lanchester versucht, den Ursachen der Finanzkrise nachzuspüren. Eine dieser Ursachen läge in dem schlichten Umstand, dass Menschen Risiken nur schwer einschätzen könnten – was von weiten Teilen der Wirtschaftswissenschaften ignoriert würde, wenn sie in ihren Theorien immerzu von rationalen Akteuren ausgingen. In den vergangenen Jahrzehnten hätten die „Quants“, die in der Finanzbranche tätigen Mathematiker, immer ausgefeiltere Modelle zur Risikokalkulation entwickelt, allerdings mit dem Schönheitsfehler, dass sie bisweilen auf geradezu groteske Weise von der Realität widerlegt worden seien. Als die Hypothekenblase in den USA platzte, hatte es Goldman Sachs laut Aussagen ihres Vorstandsvorsitzenden David Viniar mehrere Tage hintereinander mit Ereignissen zu tun, von denen jedes für sich genommen so wahrscheinlich war wie ein Lottogewinn an 21 aufeinanderfolgenden Tagen. Das hätten hausinterne Berechnungen ergeben.

Risiken lassen sich also nur bedingt beherrschen, so Lanchesters Schluss. Daher bedürfe es Regulierungsmaßnahmen, die mehr Stabilität schaffen. Der Autor führt eine reizvolle Idee des in Cambridge lehrenden WirtschaftswissenschaftlersHa-joon Chang an. Der südkoreanische Ökonom fordert, bei neuen Finanzprodukten ähnlich zu verfahren wie bei pharmazeutischen Mitteln, die grundsätzlich erst einmal verboten sind, bis sich deren Harmlosigkeit beweisen lässt.

Darüber hinaus müsse aber in der gesamten Gesellschaft ein Umdenken stattfinden, um der hemmungslosen Bereicherung auf Kosten anderer – und der Natur – Einhalt zu gebieten: „In einer Welt, der die Ressourcen ausgehen, kann man die wichtigste ethische, politische und ökologische Idee mit einem einzigen, simplen Wort zusammenfassen: Genug.“

Dass diese simple Botschaft so klingt, als käme auch sie fünf Minuten zu spät, ist das eine. Dass sie außerhalb Oxfords vermutlich wenig Gehör finden wird, das andere. Sympathisch ist sie trotzdem.

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