Flammende Plädoyers: wie Daniel Cohn-Bendit und Ulrike Guérot im Stuttgarter Schauspielhaus für die europäische Idee kämpfen.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Wo ist Angela Merkel? „Die deutsche Kanzlerin ist im Moment gar nicht auf dem Spielfeld“, konstatierte Daniel Cohn-Bendit, sie verweigere sich schlicht der notwendigen Diskussion. Eine solche Haltung bringt den überaus diskussionsfreudigen Grünen-Politiker auf die Palme – vor allem, wenn es um sein Lieblingsthema Europa geht.

 

Fast zwei Stunden drehte sich am Sonntag in der vom Stuttgarter Schauspiel, der Robert-Bosch-Stiftung und der Stuttgarter Zeitung getragenen Reihe „Theater X Wirklichkeit“ alles um Europa. Auf dem Podium im Stuttgarter Schauspielhaus saßen zwei flammende Europäer. Daniel Cohn-Bendit, der lange Jahre als Abgeordneter der Grünen im europäischen Parlament saß, und die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die sich mit der provokanten These in die Debatte eingemischt hat, dass der Nationalstaat über kurz oder lang verschwinden werde. Am Ende stehe nicht nur ein gemeinsamer Markt und eine gemeinsame Währung, sondern auch eine gemeinsame Demokratie.

Auch Guérot ärgerte sich, dass im Moment in Deutschland kaum über die Zukunft der EU gestritten wird. Sie forderte einen „Diskurs der kreativen Zerstörung“ und fragt: „Muss nicht etwas sterben, bevor etwas Neues entstehen kann?“ Bei diesem Satz schnellte Cohn-Bendit aus seinem Stuhl nach vorne. „Deutschland ist gestorben, bevor die Demokratie entstand. Das will ich nicht noch einmal haben“, sagte er mit Blick auf das Grauen des Zweiten Weltkriegs. Ulrike Guérot schreibe immer wieder, Europa oder die EU seien kaputt, legte der Politikveteran nach. „Die Europäische Union ist eine wahnsinnige Leistung. Wir sollten nicht immer nur über das jammern, was wir nicht haben.“

Guérot: So, wie die EU heute ist, hat sie keine Zukunft

Diesen Vorwurf aber wollte die scharfzüngige Politikwissenschaftlerin nicht auf sich sitzen lassen und stürzte sich in das verbale Scharmützel mit ihrem Gegenüber. Die Frage sei doch, erwiderte sie, „soll die EU so bleiben wie sie ist oder soll sie weiterentwickelt werden?“ Ihr Fazit: so wie die Union sich heute präsentiere, habe sie keine Zukunft. Allein auf die Vorgänge in Polen und Ungarn, wo die Demokratie seit Jahren demontiert werde, müsse die EU endlich reagieren können. Angesichts dieser Analyse konnte Cohn-Bendit nur zustimmend nicken. Er fasste die komplexe Ausgangslage einmal mehr in einem seiner unnachahmlichen Sätze zusammen: „Bei der EU ist das wie beim Fahrradfahren. Wenn man aufhört zu treten, fällt man um.“

Einigkeit herrschte auf dem streitfreudigen Podium darüber, dass bei der Fortentwicklung Europas das immer wieder beschworene Tandem Deutschland und Frankreich die zentrale Rolle einnimmt – Berlin im Moment allerdings fast schon einen Total-Ausfall darstelle. Fast fassungslos stellte Cohn-Bendit im Laufe der Veranstaltung fest, dass der französische Staatspräsident Emmanuel Macron die deutsche Seite mit seinen Vorschlägen zu Europa vor sich hertreibe. „Die Politiker in Berlin sehen diesen Mann an und wissen nicht, wie sie reagieren sollen.“ Das sei eine fatale Situation, da Europa im Moment von Rechtspopulisten als Zielscheibe für ihre Angriffe benutzt wird.

Stirnrunzeln auf Seiten von Cohn-Bendit erntete Ulrike Guérot für ihren Einwurf, dass die Rechten offensichtlich einige „richtige Fragen“ gestellt hätten. Der linke Politkämpfer wollte der kühl analysierenden Wissenschaftlerin da nicht ganz folgen. Doch Guérot fuhr fort: „Die Rechten geben aber die falschen Antworten.“ Offensichtlich sei, dass beim Projekt Europa bisweilen die Menschen nicht mitgenommen worden seien. In diesem Fall sei der Ruf der Straße nach einer Art Re-Nationalisierung Europas durchaus nachzuvollziehen.

Cohn-Bendit: Die EU ist mehr als ein Elitenprojekt

Daniel Cohn-Bendit weigerte sich aber, von einem reinen Elitenprojekt Europa zu sprechen. Er erinnerte an die Anfänge, als die Gründerväter beschlossen, sich auf den langen und steinigen Weg der Einigung zu machen. „Hätte man damals das Volk abstimmen lassen, wäre daraus nichts geworden“, so der Politiker. „Ich bedanke mich bei den Eliten von damals, dass sie sich so entschieden haben.“

Ulrike Guérot wandte jedoch ein, dass man sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiv um die Integration der Staaten gekümmert und eine gemeinsame Währung geschaffen habe. Die Diskussion um die Ausformung der Demokratie und die Teilhabe der Menschen sei auf der Strecke geblieben. Das müsse sich in Zukunft ändern.

Gefragt nach den zentralen Herausforderungen Europas antworteten beide: die soziale Frage. Die Nationalstaaten hätten es bis jetzt geschafft, den Menschen Sicherheit bei sehr konkreten Themen wie Umweltschutz, Alterssicherung oder auch eher abstrakten Fragen wie individuelle Freiheiten und Menschenrechte zu geben. Das werde sich in Zukunft dramatisch ändern. Daniel Cohn-Bendit: „Wenn wir China, Russland und USA sehen, werden wir zivilisatorische Standards nur verteidigen können, wenn wir das gemeinsam in Europa tun.“ In diesem Sinne, da waren sich Ulrike Guérot und Daniel Cohn-Bendit einig, habe der Nationalstaat wie wir ihn heute noch kennen, keine Zukunft.