Bei einer Führung durch Stuttgart erfahren 30 StZ-Leser die verborgenen Geschichten bestimmter Orte. Die Erfinderin der Buchreihe über die Geheimnisse bestimmter Orte, Eva-Maria Bast, präsentiert zusammen mit Jørn Precht Sehenswertes abseits des Offensichtlichen.

- Stuttgart - Vor Carls Brauhaus an der Ecke Stauffenbergstraße/Bolzstraße stehen 30 Menschen und starren auf den Boden. Was sie hier sehen, sehen viele andere nicht. Es ist ein „Stuttgarter Geheimnis“, über das man nicht einmal aus Versehen „stolpern“ kann. „Abendstern“ heißt es, und nüchtern betrachtet ist es nicht mehr als ein Loch im Pflaster.

 

Eva-Maria Bast und Jørn Precht führen die StZ-Leser an diesem sonnigen Tag zu Sehenswertem abseits des Offensichtlichen. Es ist ein kleiner Einblick in eine verborgene Welt mit Geschichten, die die Autoren der Geheimnisse-Reihe offenbaren – wie eben jenes „kreisrunde, flache Loch, das sich beim flüchtigen Hinsehen kaum von Kaugummiflecken unterscheidet“, wie Eva-Maria Bast erklärt. Die Idee zu einer Buchreihe über verborgene Geschichten hatte sie, als der Tod eines Jungen im Mittelalter und die dadurch ausgelöste Judenverfolgung in ihrer Heimat Überlingen sie nicht mehr losließen. „Jede Stadt ist voller Geheimnisse, voller rätselhafter Überbleibsel aus der Vergangenheit“, sagt sie. Daraus erwuchs die Idee, Relikte solcher Geschichten aufzuspüren. Jedes Buch schreibt Bast mit einem Co-Autor.

„Abendstern“ hat der Bildhauer Micha Ullman sein Werk von 1996 genannt. Damit würdigt der jüdische Künstler die Namensgeber der beiden Straßen: den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg und den NS-Widerständler Eugen Bolz. Das Kunstwerk hat schon eine Gehwegsanierung überstanden. Bast zitiert die Kunsthistorikerin Andrea Welz: „Man hat den Original-Abendstern gerettet, den Standort mit GPS genau vermessen und eine neue Platte mit einem neuen Loch genau an der alten Stelle eingesetzt.“

Riesige Reifröcke und sehenswerte Säulen

Dass Armin Lang, der Schöpfer des urwürttembergischen Zeichentrick-Duos Äffle und Pferdle kein Schwabe, sondern Bayer war, hat wohl noch der eine oder andere Zuhörer gewusst. Dass aber der Abstand der Säulen am Königsbau der damaligen Damenmode geschuldet ist, vermutlich kaum. Wilhelm I. hätte nämlich gerne mehr Säulen vor seinem Bau gehabt. Das änderte sich, als ihn sein Architekt darauf hinwies, dass die Damen mit ihren 1,80 bis 2,50 Meter breiten Reifröcken dann nicht mehr hindurchpassen würden. Festsäle und Ladenzeile ohne Frauen, das erschien dem König wenig reizvoll – und so misst der Abstand auch heute noch 1,80 Meter. „Wenn er nicht auf Damenbesuch verzichten will, dann muss er halt nachgeben“, bringt es die Leserin Karin Engelbrecht auf den Punkt.

Apropos Damen: Die „Drapierte liegende Frau“ von Henry Moore – heute Blickfang vor der Staatsgalerie – habe damals so gar nicht dem Geschmack der Schwaben entsprochen, berichtet der Co-Autor und Hochschulprofessor Precht. Der „Bobbes“ sei ihnen zu dick gewesen, das Frauenzimmer insgesamt zu abstrakt. „Zum Glück hat sie keine Ohren und konnte das nicht hören.“ Traurige Geschichte, gutes Ende: Der Architekt James Stirling gedachte der Liegenden ihren heutigen Platz zu.

Die heimlichen Fotospuren von Harry Gelb

Gleich mehrfach entdeckt man in der Stadt mysteriöse Kacheln, so auch nahe der Staatsgalerie. Rund 500 solcher Tafeln gibt es in Deutschland, signiert sind sie mit Harry Gelb, dem Alter Ego des Schriftstellers Jörg Fauser. Welche Künstler dahinterstecken, bleibt vorerst ein Geheimnis, doch dass sie aus Stuttgart stammen, scheint wahrscheinlich. „Denn hier gibt es besonders viele“, gibt Bast die Feststellung von Kunsthistorikerin Welz wieder.

Betroffenes Schweigen macht sich breit, als Precht erklärt, warum Sänger Freddie Mercury auf einem Namensfeld vor der Oper auftaucht. Die Namen erinnern an Menschen, die an Aids gestorben sind. Als die damals tödliche Krankheit in den 1980er Jahren bekannt geworden sei, sei in der Homosexuellen-Szene rund jeder Dritte positiv getestet worden, und es gab Wochen mit drei Beerdigungen. „Horror“, zitiert Precht die Inhaberin des Kings Clubs, Laura Halding-Hoppenheit. Mercury sei häufiger Gast in dem Club gewesen.

Beim Froschkönig ist Streicheln erlaubt

Die beiden Autoren ziehen selbst den jüngsten Zuhörer, Basts Sohn Jonathan, in ihren Bann. „Wo ist das nächste Geheimnis?“, fragte der Fünfjährige ungeduldig. Der letzte Stopp des Tages dürfte ganz nach seinem Geschmack sein: Der kleine Froschkönig an der Fassade von Feinkost Böhm symbolisiere die Verwandlung grober Steinquader in feine Fassadensteine, erklärt seine Mutter. Streicheln sei erlaubt.

„Ich fand’s wunderbar, weil wir Orte kennengelernt haben, die mir noch nie aufgefallen sind“, schwärmt Karin Engelbrecht zum Schluss. Ursula Scheller möchte die Strecke bald noch mal mit ihrer Freundin gehen. „Ich bringe sie zu den ganzen Ecken“, sagt die 75-Jährige.