Auf den Spuren der Stuttgarter Stadtgeschichte tauchen 20 StZ-Leser ein in die verwunschene Atmosphäre des Stuttgarter Lapidariums. Rund 200 Exponate erwarten die Besucher in dem nach Renaissance-Vorbild angelegten Park unterhalb der Karlshöhe.

Stuttgart - Ein schöner Mann ist dieser Apoll von Belvedere. Groß gewachsen und athletisch mit perfekten Gesichtszügen thront die Statue im oberen Garten des Stuttgarter Lapidariums. Sie ist eine Kopie nach der Marmorstatue im Hof des Vatikanmuseums und gilt als Inbegriff klassischer Körperharmonie. Als Johann Wolfgang von Goethe das Original in Rom erblickte, formulierte dieser völlig entrückt: „Mein ganzes Ich ist erschüttert.“

 

Als Manfred Schmid, verantwortlich für den Betrieb und das Programm der Museumsfamilie beim Planungsstab Stadtmuseum Stuttgart, einige Landfrauen durch den Park am Fuße der Karlshöhe führte, fiel der Kommentar weitaus nüchterner aus: „Dem fehlt ja das Schnepperle.“ Dies ist nur eine von vielen amüsanten und spannenden Begebenheiten, mit denen Schmid die 20 Teilnehmer der StZ-Sommerferienaktion bei der Führung durch das Renaissance-Kleinod unterhält. „Steine erzählen oft erstaunliche Geschichten“, sagt Schmid. Das lateinische Wort lapis bedeutet Stein, folgerichtig ist ein Lapidarium eine Sammlung von Steinwerken wie Skulpturen, Grabsteine oder Steintrümmer.

Skulpturen, Fragmente und Grabplatten

Rund 200 Exponate haben in dem Garten eine neue Heimat gefunden, stammen zum Teil aus dem Kreuzgang des ehemaligen Dominikanerklosters, dem heutigen Hospitalhof, aus historischen Trümmerresten sowie Kunstwerken der Villa Berg. Man trifft hier auf Fragmente von Torbogen und Grabplatten. Sie alle spiegeln einen wichtigen Teil der Stuttgarter Stadtgeschichte wider. Am Eingang in der Mörikestraße ist ein bronzener Ritter in die Gartenmauer eingebaut, ein anderer bewacht den Treppenaufgang in den Garten. Manfred Schmid kennt ihre ursprüngliche Aufgabe: Sie standen vor dem Zweiten Weltkrieg mit zwei weiteren an jeder Ecke des Alten Stuttgarter Rathauses.

Schmid erzählt von den Anfängen dieses Freiluftmuseums mitten in der Stadt– der Stuttgarter Industrielle Gustav Siegle hatte die Grundstücke unterhalb der Karlshöhe erworben und seinem Schwiegersohn Karl von Ostertag-Siegle eine Villa auf das Gelände gebaut. Dieser legte 1905 den Park nach Vorbildern italienischer Renaissancegärten an, reiste dazu immer wieder nach Italien, um entsprechende römische Antiken zu kaufen, die er in der Antikenwand in der Wandelhalle einarbeiten ließ. „Vor dem Ersten Weltkrieg gab es dort einen blühenden Antikenhandel“, erzählt Schmid. Vor der Wandelhalle finden auch Konzerte, Lesungen und Theateraufführungen statt.

Hier heißt der „Knabe in Gefahr“ einfach Muckenbüble

1950 erwarb die Stadt die Anlage und richtete auf Initiative des Journalisten Gustav Wais und mit Hilfe von Oberbaurat Wilhelm Speichel das Städtische Lapidarium ein. Ein beeindruckendes Freilichtmuseum, zu dessen Schätzen die Jaspis-Schale aus dem Besitz der württembergischen Königin Olga oder die Nymphengruppe des Bildhauers Johann Heinrich Dannecker als Zinkguss-Plastik zählen. Die Gäste haben den Skulpturen ganz eigene Namen gegeben, so wird der „Knabe in Gefahr“ des Künstlers Wilhelm Rösch gern als Muckenbüble bezeichnet. Aus der „Sandalenlösenden Venus“ des Russen Ivan Vitali, deren Original im Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg steht, wird schlicht die Badende.

Das Lapidarium ist ein wahrer Geheimtipp zum Staunen, Träumen und Ruhe finden. Es dauert nicht lange, und die Besucher lassen sich von der verwunschenen Atmosphäre einfangen. Elfriede Mayer-Erlacher ist schon zum dritten Mal hier. „Aber dies ist meine erste Führung. Ich habe sehr viel Neues erfahren“, sagt die Schorndorferin. Aber auf dem Gelände wird auch geforscht. So konnten Studenten der Universität Tübingen ein Kopffragment dem römischen Kaiser Traian zuordnen, das zum 1900-jährigen Todestag des Herrschers im nächsten Jahr wohl für kurze Zeit für eine Ausstellung nach Rom ausgeliehen wird. An diesem warmen Sommerabend öffnet Manfred Schmid beim Rundgang auch noch die Pforten zum Garten der benachbarten Villa Gemmingen, die seit 2000 wieder im Besitz einer Angehörigen der Nachkommenschaft von Gustav Siegle ist, nachdem nach dem Zweiten Weltkrieg das Polizeipräsidium seinen Sitz hier hatte.

Zwei Leser loben die „tolle Mischung“

„Die Villa hat mich sehr beeindruckt und natürlich die Lesung von Rudolf Guckelsberger“, sagt Cecilia Seichter aus Nürtingen, die mit ihrem Mann gekommen war. Der Sprecher des Südwestrundfunks brachte die Gruppe nach einem Umtrunk mit launigen Geschichten aus deutschen, englischen und amerikanischen Gärten von Wladimir Kaminer, Eva Demski und Bill Bryson zum Schmunzeln. „Es war eine tolle Mischung, wir werden sicher wiederkommen“, sagt Johann Seichter.