Den mutmaßlichen Attentäter Anis Amri hat die Polizei schon vor dem Anschlag in Berlin als gefährlich eingestuft. Das wirft Fragen nach dem Umgang mit potenziellen Terroristen auf – erst recht, wenn sie keineAufenthaltsgenehmigung haben.

Stuttgart - Der flüchtige Tunesier Anis Amri, gegen den die Bundesanwaltschaft am Donnerstag im Zusammenhang mit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt Haftbefehl erwirkt hat, galt als „Gefährder“, wurde monatelang überwacht, saß zeitweise in Abschiebehaft und konnte womöglich dennoch einen Terrorakt begehen. Nun fragen sich viele, wie das geschehen konnte.

 

Was sind Gefährder?

Eine Rechtsgrundlage für den Status eines Gefährders existiert nicht. Definiert wurde der Begriff 2004 von der AG Kripo, einer Arbeitsgemeinschaft, in der die Leiter der 16 Landeskriminalämter und Vertreter des Bundeskriminalamts (BKA) zusammensitzen. Ein Gefährder ist demnach „eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung, begehen wird. Dort sind alle Straftaten aufgelistet, die eine richterlich angeordnete Abhöraktion rechtfertigen können.

Wie kommt man auf die Liste?

Ausgehend von den genannten Kriterien, so eine BKA-Sprecherin, „nehmen die Landesdienststellen die Einschätzung vor, also das jeweilige Landeskriminalamt oder Polizeipräsidium“. Ist jemand bundesländerübergreifend aktiv wie der Tatverdächtige Anis Amri, dann gleichen die jeweiligen Länderbehörden ihre Erkenntnisse im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum in Berlin ab.

Wie viele Gefährder gibt es?

Laut Bundesinnenministerium haben die deutschen Sicherheitsbehörden 549 islamistische Gefährder im Auge. Längst nicht alle von ihnen sind jedoch in Deutschland auf freiem Fuß. Einige sind als dschihadistische Kämpfer in Syrien oder im Irak aktiv, andere haben sich anderweitig ins Ausland abgesetzt, wiederum andere wurden bereits verurteilt und sitzen im Gefängnis. „In Deutschland gibt es rund 200 Gefährder, die nicht in Haft sind“, sagt die BKA-Sprecherin.

Was tun die Behörden?

„Als erstes Mittel“, so heißt es beim BKA, wird die „Gefährderansprache“ eingesetzt. Polizisten suchen die Personen dabei direkt auf, um ihr künftiges Verhalten zu beeinflussen, wie es in einem Papier des Fortbildungsinstituts der bayerischen Polizei heißt: „Die individuelle Ansprache soll dem potenziellen Täter vor Augen führen, dass die Gefährdungslage bei der Polizei bekannt ist, ernst genommen wird und dass alle notwendigen Maßnahmen zur Verhinderung einer gegebenenfalls angedrohten Tatausführung durchgeführt werden.“ Zudem werden die Gefährder auch überwacht – jedoch in sehr unterschiedlichem Ausmaß, wie der aktuelle Fall belegt.

Wie läuft die Überwachung?

„Die Maßnahmen werden konkret am Einzelfall ausgerichtet“, lautet die Auskunft der Wiesbadener BKA-Zentrale: „Das entscheidet die Polizei vor Ort.“ Viele der Überwachungsmöglichkeiten erfordern eine Anordnung der Justiz. Für eine theoretisch denkbare Rund-um-die-Uhr-Überwachung aller Gefährder fehlt jedoch das Personal. Im Fall des Tunesiers kam es tatsächlich zu einer Kommunikationsüberwachung und einer Observation von März bis September dieses Jahres. Da sie jedoch keine staatsschutzrelevanten Hinweise brachte, musste sie eingestellt werden. Theoretisch kann dennoch weiter beobachtet werden – etwa über verdeckt arbeitende V-Männer oder das „zufällige“ Überwachen neuralgischer Orte, an denen sich der Verdächtige häufig aufhält. Indirekt bestätigt die BKA-Sprecherin dieses Vorgehen: „Die Person ist deshalb ja nicht weniger gefährlich als vorher.“

Was lief im aktuellen Fall schief?

Zu möglichen Pannen beziehungsweise zu der Frage, warum Amri trotz seines Gefährderstatus vom Radar verschwinden konnte, schweigen sich die Sicherheitsbehörden bis jetzt aus. Zumindest hat Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Mittwoch berichtet, dass sich Vertreter von Bund und Ländern noch im November im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum über ihn ausgetauscht haben. Ob der Grund dafür war, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits abgetaucht war, blieb unklar. Sein baden-württembergischer Amtskollege Thomas Strobl (CDU) sieht damit bewiesen, dass die Polizei nicht genug Handhabe hat. „Die Sicherheitsbehörden brauchen zusätzliche Handlungsmöglichkeiten – hier müssen wir nachjustieren.“ Der nordrhein-westfälische CDU-Politiker Armin Laschet hat dazu bereits die elektronische Fußfessel oder polizeiliche Meldeauflagen ins Spiel gebracht, zumindest für jene Gefährder, die die deutsche Staatsangehörigkeit oder ein Aufenthaltsrecht besitzen und damit nicht abgeschoben werden können.

Warum war die Haftzeit so kurz?

Neben seinem Status als Gefährder stellen sich auch Fragen zum Umgang mit Anis Amri als abgelehntem Asylbewerber. Der 24-Jährige wurde am 30. Juli in Friedrichshafen aufgegriffen und in Ravensburg in Abschiebehaft genommen, kurz darauf jedoch freigelassen. Laut Paragraf 62 des Aufenthaltsgesetzes kann eine Sicherungshaft für bis zu sechs Monate verhängt werden, wenn die Behörden einem Richter einen glaubwürdigen Grund dafür präsentieren können.

Warum das bei Amri nicht der Fall war, ist unklar. Während Nordrhein-Westfalen die fehlenden Passersatzpapiere angeführt hat, fragt sich der CDU-Innenpolitiker Clemens Binninger, „warum ein Ausreisepflichtiger mit dieser kriminellen Vorgeschichte und diesem staatsschutzrechtlichen Gefährdungspotenzial nicht in Haft genommen wurde“. Sein Parteifreund Armin Schuster wirbt daher für den koalitionsintern umstrittenen Gesetzentwurf von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU): „Der Fall Amri ist ein Musterbeispiel für den Abschiebehaftgrund Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, den wir gerne in Gesetzesform gegossen hätten, die SPD aber bisher nicht mitgetragen hat.“ Nach der Neuerung könnten Gefährder, die mit falschen Identitäten und großen Bargeldsummen auszureisen versuchen oder sich erwiesenermaßen in radikalsalafistischen Kreisen tummeln, automatisch länger in Abschiebehaft gehalten werden.

Warum keine Abschiebung?

Im Fall Amri konnten in der sehr kurzen Zeit in Abschiebehaft nicht die notwendigen Ausreisepapiere besorgt werden – die tunesischen Behörden haben sie dem NRW-Minister Jäger zufolge erst an diesem Mittwoch an die zuständige Ausländerbehörde in Kleve übersandt. Dass dies ausschließlich an den Regierungsstellen in Tunis liegen soll, mit denen Bundesminister de Maizière erst im Frühjahr eine engere Kooperation bei Rückführungen vereinbart hat, mag CDU-Mann Schuster nicht glauben: „Ich kann mir vorstellen, dass die Akribie, neue Ausweisdokumente zu beschaffen, nicht sehr hoch war. Die Ausländerbehörde in Kleve hätte sich dafür an das Auswärtige Amt, das Innenministerium oder die Bundespolizei wenden müssen.“