Region: Verena Mayer (ena)

Klaus wächst in Bad Hersfeld auf. Seine Adoptiveltern Karl und Maria Schäfer bewirtschaften einen traditionsreichen Bauernhof. Der Betrieb geht gut, die Ehe ist harmonisch, doch kinderlos. Als Klaus kommt, ist das Familienglück perfekt. Später wird Klaus zu seinem Bruder sagen: „Ich hatte eine behütete Kindheit.“

 

Doch die Sehnsucht, zu seinen Wurzeln vorzudringen, ist groß. Je älter er wird, desto öfter muss er an die unbekannte Frau denken, die ihn am 15. März 1958 geboren hat. 1985, nach dem Tod seiner Mutter Maria, macht sich Klaus Schäfer auf die Suche. Alles, was er von der Frau weiß, ist ihr Name und dass sie ihren Sohn im Waisenhaus in Neumünster abgegeben hat.

Das dortige Einwohnermeldeamt ist nicht das einzige, bei dem Klaus Schäfer nachforscht. Seine Suche führt ihn nach Hannover, Hameln und Minden. Es dauert ein Jahr, bis er die Spur der leiblichen Mutter gefunden hat. Im Frühjahr 1986 steht Klaus Schäfer dieser Frau gegenüber. Sie hat auffallend schwarze Haare und trägt einen beeindruckenden Jeansanzug. Die attraktive Erscheinung passt nicht zu dem Bild in seinem Kopf.

Waltraud P. kam 1936 in Stettin zur Welt. 1957 wurde sie zum ersten Mal Mutter, 1958 zum zweiten Mal, 1959 zum dritten Mal. Von den Vätern wurde nichts bekannt. Die Frau, die ihre eigenen Eltern auf der Flucht aus Pommern verloren hat, gab alle Kinder zur Adoption frei. Sie wusste sich nicht anders zu helfen. Wie sollte sie alleine und mit dem bisschen Geld, das sie als Haushaltshilfe verdiente, sich und die Babys durchbringen? Waltraud P. heiratete zwei Mal und brachte weitere vier Kinder zur Welt. Doch ein Happy End hat sie nicht gefunden. Waltraud P. wurde geschlagen, trank zu viel Alkohol und betäubte sich mit Tabletten.

Als sich Klaus Schäfer dieser Frau vorstellt, bricht sie in Tränen aus. Die beiden sitzen lange zusammen. Der Sohn hört, dass sein Vater ein Offizier aus England war, wo er – wie sich zu spät herausstellte – schon eine Familie hatte. Und Klaus Schäfer kapiert, dass er einen Zwillingsbruder hat. „Was ist aus Dieter geworden?“, fragt ihn Waltraud P. „Welcher Dieter?“, fragt Klaus. „Na, ihr wart doch zwei“, sagt die Frau, die es wissen muss.

Erich und Christel Nelle haben vergeblich versucht, selbst Kinder zu bekommen. Nach mehreren Fehlgeburten stellt das Ehepaar einen Antrag bei der Adoptionszentrale der evangelischen Kirche in Düsseldorf, der Kinderwunsch geht doch noch in Erfüllung. Die ersten Jahre verbringt Dieter Nelle in Oberhausen. Sein Vater ist Bergmann. Als das erste Zechensterben beginnt, zieht die Familie ins Rheinland. Von jetzt an malocht der Vater als Gießer in einer Vergaserfabrik. Auch die Mutter findet dort eine Anstellung, Akkord.

Als Dieter Nelle sieben Jahre alt ist, erzählen ihm seine Eltern, dass er nicht ihr leiblicher Sohn ist. Sie wollen nicht, dass er es von anderen erfährt. Sie erklären ihm, dass er adoptiert wurde, weil die Frau, die ihn geboren hat, ihn nicht großziehen konnte. Im Laufe der Jahre lernt Dieter Nelle, dass „Adoptiertsein heißt, grundsätzlich nicht gewollt zu sein“. Doch als Siebenjähriger kann er reinen Herzens sagen: „Das ist nicht schlimm. Ihr seid trotzdem meine Mama und mein Papa.“

Dass irgendwo in Deutschland noch ein Bub aufwächst, der ungefähr zur selben Zeit erfährt, dass seine Mutter ihn nicht behalten konnte, weiß keine der beiden Familien. Die Adoptionszentrale hat die Akten der Zwillinge, wie damals üblich, separat geführt. In den Dokumenten ist entweder von Dieter die Rede oder von Klaus. Dieter und Klaus gibt es nicht. Darum hat sich ihr Weg im Juni 1959 getrennt.

Die Sehnsucht, bis zu den Wurzeln vorzudringen, ist groß

Klaus wächst in Bad Hersfeld auf. Seine Adoptiveltern Karl und Maria Schäfer bewirtschaften einen traditionsreichen Bauernhof. Der Betrieb geht gut, die Ehe ist harmonisch, doch kinderlos. Als Klaus kommt, ist das Familienglück perfekt. Später wird Klaus zu seinem Bruder sagen: „Ich hatte eine behütete Kindheit.“

Doch die Sehnsucht, zu seinen Wurzeln vorzudringen, ist groß. Je älter er wird, desto öfter muss er an die unbekannte Frau denken, die ihn am 15. März 1958 geboren hat. 1985, nach dem Tod seiner Mutter Maria, macht sich Klaus Schäfer auf die Suche. Alles, was er von der Frau weiß, ist ihr Name und dass sie ihren Sohn im Waisenhaus in Neumünster abgegeben hat.

Das dortige Einwohnermeldeamt ist nicht das einzige, bei dem Klaus Schäfer nachforscht. Seine Suche führt ihn nach Hannover, Hameln und Minden. Es dauert ein Jahr, bis er die Spur der leiblichen Mutter gefunden hat. Im Frühjahr 1986 steht Klaus Schäfer dieser Frau gegenüber. Sie hat auffallend schwarze Haare und trägt einen beeindruckenden Jeansanzug. Die attraktive Erscheinung passt nicht zu dem Bild in seinem Kopf.

Waltraud P. kam 1936 in Stettin zur Welt. 1957 wurde sie zum ersten Mal Mutter, 1958 zum zweiten Mal, 1959 zum dritten Mal. Von den Vätern wurde nichts bekannt. Die Frau, die ihre eigenen Eltern auf der Flucht aus Pommern verloren hat, gab alle Kinder zur Adoption frei. Sie wusste sich nicht anders zu helfen. Wie sollte sie alleine und mit dem bisschen Geld, das sie als Haushaltshilfe verdiente, sich und die Babys durchbringen? Waltraud P. heiratete zwei Mal und brachte weitere vier Kinder zur Welt. Doch ein Happy End hat sie nicht gefunden. Waltraud P. wurde geschlagen, trank zu viel Alkohol und betäubte sich mit Tabletten.

Als sich Klaus Schäfer dieser Frau vorstellt, bricht sie in Tränen aus. Die beiden sitzen lange zusammen. Der Sohn hört, dass sein Vater ein Offizier aus England war, wo er – wie sich zu spät herausstellte – schon eine Familie hatte. Und Klaus Schäfer kapiert, dass er einen Zwillingsbruder hat. „Was ist aus Dieter geworden?“, fragt ihn Waltraud P. „Welcher Dieter?“, fragt Klaus. „Na, ihr wart doch zwei“, sagt die Frau, die es wissen muss.

Im Oktober 1987 ist Klaus Schäfer am Ziel

Wieder begibt sich Klaus Schäfer auf Spurensuche. Im Oktober 1987 ist er am Ziel – und schreibt einen Brief an Dieter Nelle.

Der Bruder hadert. Will er einen Doppelgänger in seinem Leben? Ist sein Leben überhaupt noch sein Leben? Verguckt sich der andere in seine Freundin? Oder gar andersrum? Dieter Nelle weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, ob er demselben Ei entstammt wie Klaus Schäfer. Nach zwei Wochen ruft er schließlich bei Klaus Schäfer an. Im November 1987 lernen sich die Zwillinge kennen.

Das Treffen findet in München statt. Klaus Schäfer wohnt in einem Altbau aus der Gründerzeit. Die Treppe, die durch das Haus führt, ist breit und weit geschwungen. Die Stufen, die er hinuntergeht, knarren bei jedem Schritt. Dieter Nelle hört seinen Bruder näher kommen, nach einer gefühlten Ewigkeit biegt Klaus Schäfer um die Kurve: etwas kleiner, um einiges rundlicher, dunkelblonde Haare, stahlblaue Augen, ein Schnäuzer. „Das bin ganz klar nicht ich“, stellt Dieter Nelle fest. Seine Erleichterung ist riesengroß, die seines Bruders, erfährt er später, ebenfalls.

Ein Wochenende lang erzählen sich die Zwillinge die Geschichte ihres Lebens. Klaus hat nach dem Abitur Forstwissenschaften studiert und arbeitet nun als Einkaufsleiter in einer großen Papierfabrik. Er plant, seine Freundin zu heiraten, und freut sich auf die Kinder, die er mit ihr haben möchte. Dieter hat nach dem Abitur Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte studiert. Er bewundert die Arbeiten von Heiner Müller und George Tabori und empfindet es beinahe als Verrat, seine freie Theaterarbeit für eine Dramaturgenstelle in einem Stadttheater aufzugeben.

Der Bruder, der die Kunst liebt, mag den Bruder, der sein Leben vollkommen ungekünstelt lebt. Und der Bruder, der mit beiden Beinen im Leben steht, mag den Bruder, der sich in den Gedanken von Heidegger und Baudrillard zu Hause fühlt. „Wir haben uns an diesem Wochenende als sympathisch eingestuft“, sagt Dieter Nelle.

Länger als 27 Jahre liegt dieses Wochenende inzwischen zurück. Erich und Christel Nelle sind gestorben. Karl Schäfer lebt als Witwer in Bad Hersfeld. Ob Waltraud P. noch lebt, weiß Dieter Nelle nicht. Sein Bruder hat den Kontakt zu ihr abgebrochen, er selbst hat ihn nie gesucht. Klaus Schäfer lebt in Deggendorf und arbeitet freiberuflich in der Papierbranche. Dieter Nelle wohnt in München – wenn er nicht in Stuttgart inszeniert.

Von seinem neuesten, dem autobiografischen Theaterprojekt hat Dieter Nelle seinem Bruder erst berichtet, als die Zusage für die Fördermittel da war. Klaus Schäfer gefiel die Idee. Das Stück handelt weniger vom Suchen und Finden der Zwillinge als von der Suche nach Identität.

Wenn es gut läuft, sehen sich die Brüder zwei Mal im Jahr. Wenn nicht, nur einmal alle zwei Jahre. Aber auch das ist kein Drama. „Da ist eine Verbindung, die mit Zeit nicht zu erklären ist“, sagt Dieter Nelle. „Eine Vertrautheit, um die man nicht kämpfen muss.“