Die Zwillinge Klaus und Dieter wurden als Kleinkinder getrennt, erst als Erwachsene erfuhren sie von der Existenz des anderen. Der eine arbeitet als Regisseur und hat daraus ein Theaterstück gemacht.

Region: Verena Mayer (ena)

Stuttgart - Anfang Oktober 1987 wird Dieter Nelles Leben erschüttert. „Kennen Sie Klaus Schäfer“, fragt eine Stimme am Telefon. Dieter Nelle kennt keinen Klaus Schäfer. Er antwortet: „Nein!“ Die Stimme sagt: „Sie werden ihn bald kennenlernen. Er hat Ihnen einen Brief geschrieben.“ Ende. Am nächsten Tag kommt der Brief. Klaus Schäfer aus München schreibt an Dieter Nelle in Mönchengladbach: „Wenn meine Informationen stimmen, sind Sie mein Zwillingsbruder.“

 

Es gibt einige Geschichten über Zwillinge, die früh getrennt wurden und sich später wieder fanden. Die meisten Paare berichten, dass ihnen unbewusst immer etwas gefehlt habe. Und dass sie sich erst seit dem Auftauchen des anderen wie ein ganzer Mensch fühlten.

Dieter Nelle geht es nicht so. Mit der Nachricht seines Zwillings fühlt er sich auf einmal fremd. Wie wenn da einer ist, der seinen Körper belagert. Kann es sein, dass jemand dasselbe erblickt, wenn er in den Spiegel schaut? Einen 1,80 Meter großen Mann, mit dunkelbraunen Haaren, braunen Augen, sportlicher Figur? Ein Mensch, der denkt wie er? Einer, der dieselben Wünsche hat? Dieselben Erfahrungen? Dieter Nelle sagt: „Diese Nachricht war ein massiver Angriff auf meine Einzigartigkeit.“

Nelle steht in einem Zimmer in der Stuttgarter Landhausstraße. An der Wand kleben Schwarz-Weiß-Fotos. Sie zeigen kleine Buben in kurzen Leibchen, die gerade mal so stehen können. Daneben hängen Kopien amtlicher Briefe. Sie erzählen den Beginn der Geschwister-Geschichte, aus der Dieter Nelle eine Bühnen-Geschichte gemacht hat. Das Zimmer in der Landhausstraße ist ein Probenraum des Theaters im Depot. Am 20. Februar wird das Stück dort zum ersten Mal aufgeführt. Es heißt „selber fremd“.

„Wir hoffen, dass Sie Dieter bald lieb gewinnen“

Der Junge trägt den Mädchennamen seiner Mutter, als er im Alter von 14 Monaten bei seinen neuen Eltern in Oberhausen eintrifft. „Der kleine Dieter ist ein freundliches, gesundes Kind, das altersgemäß entwickelt ist und Ihnen viel Freude bereiten wird“, schreibt das Jugendamt an die Eheleute Nelle vor der Ankunft des Mündels im Juni 1959. „Wir hoffen, dass Sie Dieter bald lieb gewinnen werden, und wünschen Ihnen alles Gute für die Zukunft.“

Erich und Christel Nelle haben vergeblich versucht, selbst Kinder zu bekommen. Nach mehreren Fehlgeburten stellt das Ehepaar einen Antrag bei der Adoptionszentrale der evangelischen Kirche in Düsseldorf, der Kinderwunsch geht doch noch in Erfüllung. Die ersten Jahre verbringt Dieter Nelle in Oberhausen. Sein Vater ist Bergmann. Als das erste Zechensterben beginnt, zieht die Familie ins Rheinland. Von jetzt an malocht der Vater als Gießer in einer Vergaserfabrik. Auch die Mutter findet dort eine Anstellung, Akkord.

Als Dieter Nelle sieben Jahre alt ist, erzählen ihm seine Eltern, dass er nicht ihr leiblicher Sohn ist. Sie wollen nicht, dass er es von anderen erfährt. Sie erklären ihm, dass er adoptiert wurde, weil die Frau, die ihn geboren hat, ihn nicht großziehen konnte. Im Laufe der Jahre lernt Dieter Nelle, dass „Adoptiertsein heißt, grundsätzlich nicht gewollt zu sein“. Doch als Siebenjähriger kann er reinen Herzens sagen: „Das ist nicht schlimm. Ihr seid trotzdem meine Mama und mein Papa.“

Dass irgendwo in Deutschland noch ein Bub aufwächst, der ungefähr zur selben Zeit erfährt, dass seine Mutter ihn nicht behalten konnte, weiß keine der beiden Familien. Die Adoptionszentrale hat die Akten der Zwillinge, wie damals üblich, separat geführt. In den Dokumenten ist entweder von Dieter die Rede oder von Klaus. Dieter und Klaus gibt es nicht. Darum hat sich ihr Weg im Juni 1959 getrennt.

Die Sehnsucht, bis zu den Wurzeln vorzudringen, ist groß

Klaus wächst in Bad Hersfeld auf. Seine Adoptiveltern Karl und Maria Schäfer bewirtschaften einen traditionsreichen Bauernhof. Der Betrieb geht gut, die Ehe ist harmonisch, doch kinderlos. Als Klaus kommt, ist das Familienglück perfekt. Später wird Klaus zu seinem Bruder sagen: „Ich hatte eine behütete Kindheit.“

Doch die Sehnsucht, zu seinen Wurzeln vorzudringen, ist groß. Je älter er wird, desto öfter muss er an die unbekannte Frau denken, die ihn am 15. März 1958 geboren hat. 1985, nach dem Tod seiner Mutter Maria, macht sich Klaus Schäfer auf die Suche. Alles, was er von der Frau weiß, ist ihr Name und dass sie ihren Sohn im Waisenhaus in Neumünster abgegeben hat.

Das dortige Einwohnermeldeamt ist nicht das einzige, bei dem Klaus Schäfer nachforscht. Seine Suche führt ihn nach Hannover, Hameln und Minden. Es dauert ein Jahr, bis er die Spur der leiblichen Mutter gefunden hat. Im Frühjahr 1986 steht Klaus Schäfer dieser Frau gegenüber. Sie hat auffallend schwarze Haare und trägt einen beeindruckenden Jeansanzug. Die attraktive Erscheinung passt nicht zu dem Bild in seinem Kopf.

Waltraud P. kam 1936 in Stettin zur Welt. 1957 wurde sie zum ersten Mal Mutter, 1958 zum zweiten Mal, 1959 zum dritten Mal. Von den Vätern wurde nichts bekannt. Die Frau, die ihre eigenen Eltern auf der Flucht aus Pommern verloren hat, gab alle Kinder zur Adoption frei. Sie wusste sich nicht anders zu helfen. Wie sollte sie alleine und mit dem bisschen Geld, das sie als Haushaltshilfe verdiente, sich und die Babys durchbringen? Waltraud P. heiratete zwei Mal und brachte weitere vier Kinder zur Welt. Doch ein Happy End hat sie nicht gefunden. Waltraud P. wurde geschlagen, trank zu viel Alkohol und betäubte sich mit Tabletten.

Als sich Klaus Schäfer dieser Frau vorstellt, bricht sie in Tränen aus. Die beiden sitzen lange zusammen. Der Sohn hört, dass sein Vater ein Offizier aus England war, wo er – wie sich zu spät herausstellte – schon eine Familie hatte. Und Klaus Schäfer kapiert, dass er einen Zwillingsbruder hat. „Was ist aus Dieter geworden?“, fragt ihn Waltraud P. „Welcher Dieter?“, fragt Klaus. „Na, ihr wart doch zwei“, sagt die Frau, die es wissen muss.

Im Oktober 1987 ist Klaus Schäfer am Ziel

Wieder begibt sich Klaus Schäfer auf Spurensuche. Im Oktober 1987 ist er am Ziel – und schreibt einen Brief an Dieter Nelle.

Der Bruder hadert. Will er einen Doppelgänger in seinem Leben? Ist sein Leben überhaupt noch sein Leben? Verguckt sich der andere in seine Freundin? Oder gar andersrum? Dieter Nelle weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, ob er demselben Ei entstammt wie Klaus Schäfer. Nach zwei Wochen ruft er schließlich bei Klaus Schäfer an. Im November 1987 lernen sich die Zwillinge kennen.

Das Treffen findet in München statt. Klaus Schäfer wohnt in einem Altbau aus der Gründerzeit. Die Treppe, die durch das Haus führt, ist breit und weit geschwungen. Die Stufen, die er hinuntergeht, knarren bei jedem Schritt. Dieter Nelle hört seinen Bruder näher kommen, nach einer gefühlten Ewigkeit biegt Klaus Schäfer um die Kurve: etwas kleiner, um einiges rundlicher, dunkelblonde Haare, stahlblaue Augen, ein Schnäuzer. „Das bin ganz klar nicht ich“, stellt Dieter Nelle fest. Seine Erleichterung ist riesengroß, die seines Bruders, erfährt er später, ebenfalls.

Ein Wochenende lang erzählen sich die Zwillinge die Geschichte ihres Lebens. Klaus hat nach dem Abitur Forstwissenschaften studiert und arbeitet nun als Einkaufsleiter in einer großen Papierfabrik. Er plant, seine Freundin zu heiraten, und freut sich auf die Kinder, die er mit ihr haben möchte. Dieter hat nach dem Abitur Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte studiert. Er bewundert die Arbeiten von Heiner Müller und George Tabori und empfindet es beinahe als Verrat, seine freie Theaterarbeit für eine Dramaturgenstelle in einem Stadttheater aufzugeben.

Der Bruder, der die Kunst liebt, mag den Bruder, der sein Leben vollkommen ungekünstelt lebt. Und der Bruder, der mit beiden Beinen im Leben steht, mag den Bruder, der sich in den Gedanken von Heidegger und Baudrillard zu Hause fühlt. „Wir haben uns an diesem Wochenende als sympathisch eingestuft“, sagt Dieter Nelle.

Länger als 27 Jahre liegt dieses Wochenende inzwischen zurück. Erich und Christel Nelle sind gestorben. Karl Schäfer lebt als Witwer in Bad Hersfeld. Ob Waltraud P. noch lebt, weiß Dieter Nelle nicht. Sein Bruder hat den Kontakt zu ihr abgebrochen, er selbst hat ihn nie gesucht. Klaus Schäfer lebt in Deggendorf und arbeitet freiberuflich in der Papierbranche. Dieter Nelle wohnt in München – wenn er nicht in Stuttgart inszeniert.

Von seinem neuesten, dem autobiografischen Theaterprojekt hat Dieter Nelle seinem Bruder erst berichtet, als die Zusage für die Fördermittel da war. Klaus Schäfer gefiel die Idee. Das Stück handelt weniger vom Suchen und Finden der Zwillinge als von der Suche nach Identität.

Wenn es gut läuft, sehen sich die Brüder zwei Mal im Jahr. Wenn nicht, nur einmal alle zwei Jahre. Aber auch das ist kein Drama. „Da ist eine Verbindung, die mit Zeit nicht zu erklären ist“, sagt Dieter Nelle. „Eine Vertrautheit, um die man nicht kämpfen muss.“