Wolfgang Berger, 1956 in Kirchheim geboren, wurde als Kleinkind zur Adoption freigegeben. Doch tief in ihm klaffte immer eine Identitätslücke. Jetzt will er seine leiblichen Eltern finden.

Kirchheim - Mitte Januar 2013 bekommt der StZ-Redakteur Wolfgang Berger, wohnhaft in der Blumenstraße in Dettingen unter Teck, einen Brief von Wolfgang Berger, der in der Larkspur Lane in Fairfield, Kalifornien lebt. Darin steht auf Englisch: „Ich möchte meine leibliche Mutter und Verwandten finden.“ Es folgt die knappe Schilderung einer Adoptionsgeschichte, die durch die Kopie eines Kinderfotos illustriert ist. Am Ende steht der Appell: „Falls dieses Kind zwischen 1956 und 1959 in Ihrem Haushalt war, dann nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf. „Ich weiß, das könnte eine schwere Entscheidung sein, nachdem so viele Jahre vergangen sind.“

 

Der Brief des 57-Jährigen, der mit Wolfgang Berger unterschreibt, aber seit 53 Jahren Richard Dean heißt, erreicht eine ganze Reihe von Adressaten mit dem Namen Berger im Raum Kirchheim. Warum er jetzt, ein halbes Leben später, die Suche beginnt, darauf gibt es keine einfache Antwort. Bis heute weiß Richard Dean nicht, warum sich damals sein Leben um 180 Grad gedreht hat. Nichts über die Hintergründe, warum er seine Familie verlassen musste. Letztlich ist die Frage für ihn auch nicht die wichtigste. Ihm geht es um etwas anderes.

Seine Erinnerungen an die Kinderjahre in Deutschland sind brüchig. Nur ein paar Bilder sind in Richard Deans Kopf haften geblieben. An seine Eltern und Geschwister erinnert er sich gar nicht mehr. Das früheste Bild in seinem Gedächtnis: er lebt gemeinsam mit anderen Mündeln in einem Haus. Die Kleider, die er trägt, passen nie, sind entweder zu groß oder zu klein. Eines Tages wird er für eine mögliche Adoption vorgeführt. „Ich bekam ein Spielzeug in die Hand gedrückt. Ich weiß nicht mehr genau, was es war. Aber bei meiner Rückkehr auf die Station raufte ich mit den anderen Kindern darum, da brach das Ding auseinander“, erzählt Richard Dean am Telefon.

Er erinnert sich auch an eine Frau, die im Adoptionsverfahren eine Rolle spielte. „Vor ihr hatte ich immer Angst.“ Und er erinnert sich an einen netten deutschen Polizisten, einen Freund seines künftigen Vaters. „Ich habe den Mann zum Abschied kräftig umarmt, als ich abgeholt wurde.“

Im Sommer 1960 beginnt für Wolfgang ein neues Leben. Er wird adoptiert. Sein neuer Papa heißt Donald Dean, er ist Sergeant bei der Militärpolizei. Seine neue Mutter heißt Rebecca. Und aus ihm, dem kleinen Wolfgang Berger, geboren am 3. März 1956 in Kirchheim unter Teck, wird Richard. Das Ehepaar Dean nimmt den Knaben auf dem pfälzischen US-Luftwaffenstützpunkt Spangdahlem als gemeinschaftlichen Sohn an Kindes statt an.

Er wächst wohl behütet als US-Boy auf

Die neuen Eltern machen nie ein Geheimnis daraus, dass sie ihn angenommen haben. Die näheren Umstände seiner Adoption sind für ihn aber bis heute im Dunkeln geblieben. „Ich habe nach Unterlagen gesucht, aber meine Eltern haben nichts – was ich schon etwas seltsam finde. Meine Mutter sagt, sie seien alle verloren gegangen, und ich bohre nicht weiter nach.“

Er wächst wohlbehütet auf, besucht die Bibelschule in der Kaserne, hat eine glückliche Kindheit. „Ich war das einzige Kind meiner Adoptiveltern, ich liebe sie sehr. Und doch bin ich auch ein Kind deutscher Eltern“, sagt er. Seine nächste Station ist New Jersey, dann Oklahoma, wo Richards amerikanischer Vater 1930 geboren wurde und wo der Junge schließlich die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Nächster Stopp: Travis Air Base, Kalifornien. „Soldatenkinder sind wie Tumbleweeds“, sagt Richard – Steppenpflanzen, die vom Wind über den Boden getrieben werden.

1962 ziehen die Deans nach New Mexico. Dort, in der Holloman Air Force Base, steht Richards Vater im Jahr darauf Ehrenwache für John F. Kennedy, als der aus der Air Force One steigt. „Das Flugzeug landet. Der Präsident steigt aus, schaut und spricht mit meinem Vater. Dann sehe ich, wie mein Vater auf die Menge zeigt. Präsident Kennedy geht dahin, wo Mom und ich stehen. Er schüttelt uns die Hände“, erzählt Richard Dean. Nur wenig später wird der Präsident in Dallas ermordet.

Zu dieser Zeit fängt Richard an zu stottern und wird zum Logopäden geschickt. Sein Deutsch verlernt er nach und nach. In der Schule lässt er öfters die Fäuste sprechen, er tritt dem Boxteam bei und wird auf lokaler Ebene dreimal „Golden Glove Champion“. „Keiner konnte mir die Nase brechen“, berichtet Richard lachend.

Der innere Kampf mit den Emotionen

Zu Hause hat der Junge viele Tiere, Hunde, Hasen, Schildkröten, Fische, Vögel – „ich hatte einen ganzen Zoo daheim“. Er entdeckt seine Liebe zur Musik, hört Tex Ritter und ist gefangen von dem Sänger, der 1964 in die Country Music Hall of Fame aufgenommen wird. An Weihnachten 1967 bekommt Richard eine Gitarre, gründet drei Jahre später die Highschool-Band The Golden Punch Boys.

Mit 19 Jahren tritt er selbst in die Armee ein. 1978 begleitet Richard Dean vier Flugzeugingenieure auf ihrer Reise zum Luftwaffenstützpunkt nach Spangdahlem in der Pfalz. Es ist das erste Mal, dass er wieder direkt mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Sie hat den jungen Mann nie losgelassen. Rückblickend sagt Richard Dean über die Zeit, als er in der Schule handgreiflich wurde: „Ich kämpfte immer mit Emotionen, die ich in dem Alter nicht einordnen konnte. Und ich trage mit mir noch immer Konflikte der Zugehörigkeit aus. Warum ich diese Gefühle habe, weiß ich nicht. Meine Eltern oder Verwandten zu finden könnte mir vielleicht helfen, die Gefühle besser zu verstehen. Das ist eine Obsession für mich geworden. Wie für den Lachs, der darum kämpft, in seine Laichgründe zurückzukommen.“

Richard Dean verlässt die Armee 1979 und geht nach Las Vegas. Dort spielt er in diversen Bands, um im professionellen Musikzirkus Fuß zu fassen. Nebenher verdingt er sich als Musik- und Geschichtslehrer. Zwei Jahre vergehen, ohne dass er sein Ziel erreicht. Dean geht nach New Mexiko, arbeitet für eine Baufirma und gründet eine Bluegrass-Band. Noch einmal versucht er, groß rauszukommen. Er reist nach Tennessee. Fünf Jahre lang spielt er in den Nightclubs von Nashville. Ende 1987 verlässt er seine Band, kehrt nach Kalifornien zurück und hilft seiner Mutter, den Vater Donald zu pflegen. Richard arbeitet jetzt als Handwerker und Alleskönner. 1990 stirbt sein Vater. Seine Mutter Rebecca wird auch krank, es geht ihr immer schlechter. Seit fünf Jahren muss sich Richard fast rund um die Uhr um sie kümmern. Sie hat Krebs. In diesen Tagen liegt sie wieder im Krankenhaus für eine weitere Strahlentherapie.

Und seine leiblichen Eltern? Mit seinen Briefen und Recherchen hat Richard Dean herausgefunden: Sein Vater heißt Josef Berger, war Kraftfahrer und stammt aus dem heutigen Tschechien. Wenn er noch lebt, ist er 87. Die Mutter, Julie Berger, geborene Nieffer, ist Jahrgang 1925 und gebürtige Kirchheimerin. Am 24. Februar 1951 haben sie in Wernau geheiratet.

Fünf schwäbische Geschwister

Neben Wolfgang brachte Julie Berger laut dem Melderegister fünf weitere Kinder zur Welt: Herbert, Klaus, Hans-Joachim, Karin und Jürgen. Wolfgang ist das zweitälteste Kind. Was mit seinen Geschwistern passierte, weiß er nicht. Stimmen die Unterlagen, müsste die Familie im Jahr 1957 nach Donzdorf im Kreis Göppingen gezogen sein. Dort, im Filstal, verliert sich jedoch die Spur. „In Donzdorf konnten laut unserer Nachfrage keine entsprechenden Daten mehr ermittelt werden“, antwortet der Kirchheimer Bürgerservice. Über das Meldeportal hat die Kirchheimer Stadtverwaltung die Suche auf das ganze Bundesgebiet ausgeweitet. Vergeblich.

Ein Jahr ist seit dem Beginn der Suche verstrichen. Das Rätsel seiner Herkunft hat der Mann mit den zwei Namen noch nicht lüften können. Auf der Suche nach seinen leiblichen Eltern ist er durch Behördenhilfe ein Stück vorangekommen. Aber ein paar Daten beantworten einem Menschen nicht die Frage, woher er kommt.

Richard Dean hat nicht geheiratet, ist auch nie Vater geworden. Er lebt mit seiner Freundin Jeanne zusammen. „Sie ist meine Seelenverwandte und meine ganze Welt“, sagt er. Was wäre, wenn er seine Eltern oder andere Blutsverwandte tatsächlich treffen würde? „Ich würde ihnen sagen, dass es mir leid tut, dass dieser Tag so spät kommt“, sagt Richard Dean. „Ich würde ihnen sagen, dass uns die Zeit zwar in verschiedene Richtungen getrieben hat, dass ich aber hoffe, dass wir uns als eine Familie wiederfinden. Alles, was ich mir wünsche, ist, dass ihr euch nicht von mir abwendet wegen der langen Zeit. Ich habe viel in die Familie zurückzubringen: meine lebenslangen Abenteuer. Ich glaube, wenn wir auf die Vergangenheit zurückblicken, sehen wir in uns die Menschen, als die wir geboren wurden – auch wenn diese Vergangenheit uns zwingen mag, uns mit unseren innersten Ängsten auseinanderzusetzen.“