Mehr als vier Jahre nach dem Suizid einer Jugendlichen in einer Wohngruppe gibt das OLG Karlsruhe einem sozialpsychiatrischen Verein eine Mitschuld. Das Urteil könnte weitreichende Konsequenzen haben.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Karlsruhe - Die Trauer von Marina und Mohsen Rahmani über den Tod ihrer Tochter Larissa wird das Urteil kaum schmälern. Doch zumindest, sagt Mohsen Rahmani, habe er mit seiner Frau erreicht, dass künftig wohl aufmerksamer hingeschaut werde, wenn ein suizidgefährdeter Jugendlicher in einer betreuten Wohngruppe untergebracht wird. „Der Beklagte hat seine Fürsorgepflicht gegenüber der Tochter des Klägers verletzt“, heißt es im Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe. Der Sozialpsychiatrische Hilfsverein Rhein-Neckar muss an das Ehepaar Rahmani die Beerdigungskosten für dessen Tochter in Höhe von 6048,18 Euro zuzüglich Zinsen erstatten.

 

Im Frühjahr 2013 wurde bei Larissa Rahmani eine „schwere depressive Episode“ diagnostiziert. Daraufhin wurde die Gymnasiastin in die Mannheimer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen. Nach einem Vierteljahr endete die stationäre Behandlung. Wie von der Klinik empfohlen kehrte Larissa nicht in ihr Elternhaus nach Sinsheim zurück, sondern wurde in einer pädagogisch-therapeutischen Jugendhilfeeinrichtung in Wiesloch untergebracht. Am 8. Juli kam die 18-Jährige in die Wohngruppe, sieben Wochen später nahm sie sich in ihrem Zimmer mit einer Überdosis Psychopharmaka das Leben. Unsere Zeitung hat seinerzeit über den Fall berichtet.

Ihr Vater Mohsen Rahmani ist davon überzeugt, dass „Larissa noch leben würde, wenn die betreuende Einrichtung ihre Aufgabe mit der notwendigen Verantwortung wahrgenommen hätte“. Gemeinsam mit seiner Frau hat er Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung bei der Staatsanwaltschaft in Heidelberg gestellt. Das Verfahren wurde eingestellt. Auch zivilrechtlich scheiterten die Eheleute in der ersten Instanz am Heidelberger Landgericht mit einer Schadenersatzklage.

Erst das Oberlandesgericht (OLG) gab ihnen nun – zumindest teilweise – recht. Die Beweisaufnahme hatte ergeben, dass Larissa gegenüber ihren Betreuern mehrfach Suizidgedanken geäußert hatte, aber nicht einmal „auf Hilfs- und Behandlungsangebote gegebenenfalls durch Dritte hingewiesen wurde“. Ein Sachverständiger hat dieses Vorgehen in dem Prozess als „schlechthin unverständlich“ bezeichnet. „Wenn jemand ausspricht, dass er sich töten möchte, ist es naheliegend, geeignete Maßnahmen einzuleiten, um dies zu verhindern“, heißt es in dem Urteil.

Kein Schmerzensgeld für die Hinterbliebenen

Gleichwohl bekamen die Eheleute Rahmani außer den Beerdigungskosten für ihre Tochter kein Schmerzensgeld zugesprochen, da in Deutschland, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, eine solche Entschädigung für Hinterbliebene grundsätzlich nicht existiert. „Die seelische Erschütterung der Kläger ( . . .) kann nicht mit einer Gesundheitsverletzung gleichgesetzt werden, und deshalb ist auch ein Schmerzensgeld nicht zu rechtfertigen“, erklärte der Richter. Der Anwalt der Familie hatte 50 000 Euro gefordert. So muss das klagende Ehepaar neben der psychischen Belastung eines vier Jahre währenden Rechtsstreites auch Kosten im fünfstelligen Bereich für Anwälte, Gutachter und Gerichte tragen. Der 60-jährige Geschäftsmann Mohsen Rahmani zeigt sich dennoch mit dem Urteil zufrieden. „Uns ist es gelungen, einen Präzedenzfall zu schaffen“, sagt er. „Wir haben auf Missstände in betreuten Wohngruppen aufmerksam gemacht. Künftig müssen Träger solcher Einrichtungen mit juristischen Konsequenzen rechnen, wenn sie ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Jugendlichen verletzen.“

Auch die Leitung des Sozialpsychiatrischen Hilfsvereins Rhein-Neckar geht davon aus, dass die OLG-Entscheidung Auswirkungen auf alle Einrichtungen in Baden-Württemberg haben wird, die ambulante Betreuung in Wohngruppen anbieten. „Damit ist die Leistungserbringung für Personen mit einer latenten Suizidgefahr mit hohen haftungsrechtlichen Risiken verbunden“, heißt es in einer Stellungnahme des Vereins. „In letzter Konsequenz heißt dies, Menschen mit einer depressiven Erkrankung von der Möglichkeit einer sozialen Rehabilitation auszuschließen.“