In ein paar Jahrzehnten Comic-Geschichte haben die X-Men kreative Höhen und Tiefen erlebt. Im Kino wird das Auf und Ab im Zeitraffer nachgeholt. Der Regisseur Bryan Singer zeigt nun, wie ein Tief aussieht.

Stuttgart - Haben wir als Menschheit eigentlich viel dazugelernt? Diese Frage stellt sich beim Blick in die Geschichte der Großreiche, Minderheitenverfolgungen und Eroberungskriege immer wieder. „X-Men: Apocalypse“, Bryan Singers Wiederaufnahme der Superhelden-Saga, schaut ins alte Ägypten. Eine Zeremonie im Inneren eines Pyramiden-Prachtbaus findet statt, und schnell wird klar, dass sich hier religiöser Pomp mit Frankensteins gotteslästerlichem Hochmut mischt: Ein finsterer Geselle lässt sich gerade nicht nur die Lebenskraft, sondern auch noch spezielle Talente eines zum Opferlamm erkorenen Menschen übertragen.

 

Nun will „X-Men: Apocalypse“ keine Einsteigervorlesung für angehende Ägyptologen sein, sondern Popcorn-Kino. Bryan Singer darf so viel Unsinn erzählen, wie er möchte, Hauptsache, das Ganze wird unterhaltsam. So lautet die gängige Regel für Blockbuster. Aber Singer macht in seiner schnell zur peinlichen Großkatastrophe verkommenden Effektshow etwas ganz Wesentliches falsch: Er kümmert sich keinen Deut um die Mythologie der Superheldenwelt, in der er sich bewegt.

Ausgrenzung und Verfolgung

Die X-Men-Saga ruht auf zwei Säulen. Zum einen gibt es in der Welt dieser Comics und Filme immer schon Mutanten, also Menschen mit ganz außergewöhnlichen Kräften, Fähigkeiten und äußeren Veränderungen. Zum anderen gibt es immer schon die Angst der vermeintlich Normalen vor diesen vermeintlich Abnormalen, es gibt also Ausgrenzung, Schikane, Pogrome, Ausrottungsprogramme. Böse handelnde Mutanten sind meist das Produkt dieser Verfolgungserfahrung. Im Internat von Professor Xavier finden junge Mutanten des 20. Jahrhunderts, die nicht wissen, wohin mit ihrem Anderssein, eine Zuflucht. Die Fähigsten von ihnen werden X-Men, Angehörige einer privaten Elitetruppe, die Menschheit und Mutanten vorm Zorn der jeweils anderen Gruppe schützen möchte.

Aus dieser Grundkonstellation haben die Comics im Lauf der Jahrzehnte mal viel, mal wenig gemacht. Singer wollte fürs Kino ganz Großes daraus machen, er ging im Vorgängerfilm ganz nahe an den Tabubruch heran, als er Magneto, einem der zornigen Mutanten, die Erfahrung von Auschwitz in die Familiengeschichte legte.

Auf Seiten der Mutantenhasser

Nun aber schlägt sich „X-Men: Apocalypse“ unbedacht auf die andere Seite. Der größenwahnsinnige altägyptische Fiesling des Filmbeginns ist ein fast unüberwindlicher Supermutant mit zum Gottgefühl angeschwollenem Größenwahn. En Sabah Nur, wie er heißt, will die Weltherrschaft. Mit anderen Worten, dieser grünliche Muskelklotz, gespielt vom komplett unterforderten Oscar Isaac, bestätigt alle Befürchtungen der Mutantenhasser.

Singer fängt auf dem ganz falschen Fuß an und findet nie mehr auf den richtigen, als sei nach dieser Umstülpung der toleranzbedachten X-Men-Welt sowieso schon alles egal. Wie En Sabah Nur im alten Ägypten scheitert, dann aber in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wieder auftaucht und sein Ich-unterjoche-alle-Projekt wieder aufnimmt, wird so dumm und schluderig erzählt, als sei unter der grell leuchtenden Schicht moderner Computertricks ein simples Autokino-B-Movie der fünfziger Jahre verborgen.

Singer stiftet Verwirrung

Gegen En Sabah Nur, diese Karikatur eines Bösewichts, ist der verbitterte Magneto (Michael Fassbender) eine Shakespeare-Figur. Trotzdem braucht Singer schon wieder einen erzählerischen Neuansatz, um uns Magnetos Seelenzustand zu erklären. „X-Men: Zukunft ist Vergangenheit“ hatte 2014 einen radikalen Neustart des Franchises gewagt, doch nun stiftet Singer schon wieder Motiv-Verwirrung. Er kehrt aber in einer Schlüsselszene zum Auschwitz-Motiv zurück: Magneto, der über alles Metallische Gewalt hat, reißt im Wirbelsturm seines Zorns die als Mahnmal dastehenden Lagergebäude ab. Das wirkt nicht erschütternd, sondern ungehörig. Singer offenbart, dass ihm, wann immer er vom Innenleben der Figuren erzählen will, bloß noch Bilder der entfesselten Destruktion einfallen.

Kein Gedanke an Zivilisten

Weil Magneto sich dem ägyptischen Finsterling anschließt, hat „X-Men: Apocalypse“ üppig Gelegenheit, Zerstörungsbilder zu generieren. Aber es sind inspirationslos aneinander gereihte Szenen von Häusern, Brücken, Autos, die in die Luft gerissen und zerfetzt werden. Nach einer Weile wirkt das wie der Albtraum eines Staubsaugerproduzenten, der eines neuen, unausgereift starken Modells wegen Schadensersatzklagen fürchtet.

Dass bei den Aktionen der Superhelden und Superschurken nicht nur Städte spektakulär zu Bruch gehen, sondern viele Zivilisten zu Schaden kommen, ist mittlerweile Thema im Superheldenkino. Nicht aber bei Singer. Den interessieren die menschlichen Opfer kein bisschen.

Mit Sophie Turner (Sansa Stark aus „Game of Thrones“) als Jean Grey, Jennifer Lawrence als Mystique und James McAvoy als Professor Xavier, um nur einige zu nennen, hat Singer Darsteller, die uns Spannendes, über die pure Kraftmeierei Hinausgehendes aus dem Mutantenleben erzählen könnten. Aber die Darstellerriege muss sich durch Szenen quälen, die man auch mit Laiendarstellern aus dem Schlumpfdorf-Rollenspielclub hätte besetzen können. Es wird dringend Zeit, dass ein anderer Regisseur als Singer das X-Men-Universum entweder wieder Ernst nimmt – oder richtig satirisch angeht.