Der SWR hat „Ulysses“ von James Joyce 22 Stunden am Stück als Hörspiel gesendet. Wie hält man das aus? StZ-Redakteur Stefan Kister hat dies im Selbstversuch ausprobiert.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Ich bin am Ende, mein Herz klopft, die Ohren schmerzen – aber ich habe es geschafft. Ich habe den Mount Everest bestiegen oder die größte deutsche Hörspielproduktion bewältigt, was auf dasselbe hinausläuft. 22 Stunden hinter dem Radio, 22 Stunden James Joyce’ Roman „Ulysses“: das ist literarisches Himalaja, ich bin wie Reinhold Messner.

 

„Wir gehen nicht davon aus, dass sie uns den ganzen Tag begleiten“, sagt die nette SWR-2-Dame im Radio. Doch, genau das haben wir vor. Mister Bloom, ein durchschnittlicher Dubliner Anzeigenverkäufer jüdischer Herkunft, und ich wollen diesen Tag gemeinsam verbringen. Wir sitzen am Frühstückstisch, meine Frau köpft ihr Ei. Blauer Himmel, ein schöner Tag. Es ist der 16. Juni, Bloomsday, der höchste Feiertag der Joyce-Gemeinde, kurz nach acht Uhr.

Wir könnten Mr. Bloom der Einfachheit halber Odysseus nennen – was diesem binnen zehn mythischer Jahre widerfahren ist, erlebt Bloom an einem einzigen in Dublin. Nichts Ungewöhnliches: er geht aus, trifft diesen und jenen, lässt es sich gutgehen, wohnt einer Beerdigung bei, wird betrogen, entwickelt lüsterne Gefühle für ein junges Mädchen, väterliche für einen jungen Mann und landet schließlich wieder im Bett seiner Frau Molly. Ein ganz normaler Tag, dieser 16. Juni 1904. Aber einer, in dem sich wie in einem Brennglas die gegenwärtige und die vergangene Geschichte zusammenzieht, ein Tag, der die zersplitterte moderne Welt noch einmal episch zur Ganzheit fügt – und, das auch, ein Tag, der sich normalerweise hinter gut tausend ungelesenen Seiten zum Verschwinden bringt. Viele kennen den Roman nur vom Hörensagen. Künftig kann man sich dieses „nur“ sparen. Denn das Hörensagen, in das der Regisseur und Musiker Klaus Buhlert das Werk im Auftrag des SWR und des Deutschlandfunks verwandelt hat, ist diesem kongenial.

Um 11.05 Uhr taucht endlich Mr. Bloom auf

Auch Stephen Dedalus, eine Art Telemach – Odysseus’ Sohn –, frühstückt mit seinen Freunden. Möwen segeln durch das Zimmer, eine frische Meeresbrise weht herein. Und eine Flut ungebärdiger Gedanken: es geht um Irland, um seine neuen Poeten und um die „rotzgrüne“ See. Stephen Dedalus muss unterrichten. Ich denke daran, einkaufen zu gehen. Joyce hat jedem Kapitel eine Figur aus der „Odyssee“ zugeordnet. Mit jedem Abschnitt verwandelt sich das Buch, die Perspektive, der Stil, die Tonart. Ich vertausche den Morgenmantel mit den Straßenkleidern. Vor dem Haus treffe ich meinen Nachbarn mit seinem Hund. Er ruft mir etwas zu. Ich höre: „Ich bin der böse, böse Riese und rieche ihr Blut“, lächle irritiert und winke zurück. Richtig, ich trage Kopfhörer.

11.05 Uhr: Endlich kommt Mr. Bloom, der Liebhaber innerer Organe mit dem Beigeschmack sanft duftenden Urins. Auf dem Fleisch, das ich aus der Kühltruhe angle, steht Bürgermeisterstück. Mr. Bloom erwischt gerade noch eine Niere, der die letzten Blutstropfen entsickern. Die Käsefrau ist offensichtlich verstimmt über meine Verstöpselung. Alle bekommen etwas, nur ich muss warten. Bloom brät seinen Kauf längst in Butter – wie das brutzelt! Molly Bloom will wissen, was Metempsychose ist. Seelenwanderung – aus der Fischtheke glupscht ein verdrießlicher Krake hervor. Der Strom des Lebens hat mich in meinen Garten gespült. Es ist 15.35 Uhr. Mr. Bloom isst schon wieder, er ist mit der Zeit etwas hinterher, beißt in ein Gorgonzolasandwich. Gästegemurmel, Beizenklänge. In meinem Garten wiegen sich Rosen und zwitschern Vögel. Der „Tatort“-Kommissar Dietmar Bär – diesmal nicht mit Toten beschäftigt, sondern damit, Bloom stimmlich zum Leben zu erwecken – sinniert über den Kreislauf der Dinge: Nahrung, Speisesaft, Blut, Kot, Erde, Nahrung: „Müssens uns reinfuttern wie Kohlen in eine Lokomotive.“ Ich blättere im Buch nach: Seite 248. Die Entdeckung schüchtert mich etwas ein. 248 Seiten von 1015. Wie bei einem Marathon, die erste große Krise nach zehn Kilometern.

Bloomsday – ein seltsames Ritual

Dann weist die nette Frau im Radio auch noch darauf hin, dass das folgende Kapitel vermutlich viele Leser verführt habe, die Lektüre abzubrechen. Es heißt nach den Seeungeheuern Skylla und Charybdis. Mich überfällt ein leichter Schwindel, während Jens Harzer mit einer Elektrohexe, seiner inneren Stimme und einem Quäker-Bibliothekar über König Hamlets Geist disputiert. Immer wieder stößt man bei der Expedition in dieses Romangebirge in Zonen vor, in deren dünner gelehrter Luft man eigentlich nur beatmet von Fachbibliotheken überlebt. Doch wo mancher Leser entkräftet kapituliert, sitzt man hier gewissermaßen im Sessellift, lässt sich von den Stimmen des großartigen Personals über die gefährlichsten Abgründe hinwegtragen. Man schwebt dahin auf der wunderbaren Wortmusik, die Corinna Harfouch aus dem Sirenen-Kapitel entbindet. Und ist froh, den fremdenfeindlichen Kyklopen in Barney Kiernans Pup nicht zu nahe zu kommen, in deren wüstem Gebräu aus irischem Nationalismus und Antisemitismus die Fachkräfte für das Bieder-Diabolische, Sepp Bierbichler und Thomas Thieme, ganz in ihrem Element sind.

Ein irischer Experte klärt auf

Ein irischer Experte klärt in einer Pause über den üblichen Verlauf von Bloomsday-Feiern auf: bis Sonnenuntergang eher ein seriöses literarisches Ereignis, danach tauchen Sachen auf, die mit Alkohol zu tun haben. Warum zum Bloomsday auch gehört, sich am Strand von Sandymount unanständigen Dingen hinzugeben, erfährt man im Nausikaa-Kapitel.

Irgendwann zwischen ein und zwei Uhr muss ich dann im Bordell von Bella Cohen verloren gegangen sein. Undeutlich erinnere ich mich: Jemand hat Bloom in eine Frau verwandelt . . .

Dem Regisseur Klaus Buhlert ist es gelungen, dieses Werk an die zurückzuerstatten, denen es eigentlich gehört: nicht den Gelehrten, sondern den ganz normalen Durchschnittsmenschen, deren Vulgaritäten, deren Gemeinheiten, deren Hoffnungen und Leidenschaften ebenso wie ihre verborgenen Wünsche und Seitensprünge hier verhandelt werden. Diese Selbsterkenntnis aus dem imposanten Buchstabengestrüpp freigeschlagen zu haben, ist neben der sportlichen Leistung die große Genugtuung dieser Unternehmung. Und wir erteilen dafür dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Absolution für Ewigkeiten in billiger Unterhaltungskonfektion verpulverter Zeit und Gebühren.

Es ist 5.18 Uhr. Ich liege im Bett. Meine Frau schläft neben mir, Mr. Bloom, endlich heimgekehrt, schlummert zu Füßen Mollys. Nur wir beide sind wach. Molly klingt wie die sinnlich-sensible Birgit Minichmayr und verrät mir ihre intimsten Geheimnisse. Ich behalte sie für mich. Ich bin glücklich. Ich bin am Ende.