Der syrische Bürgerkrieg geht in seine entscheidende und gefährlichste Phase. Das Regime will die Rebellenhochburg Idlib zurückerobern.

Idlib - „Das Ende ist nahe“, steht auf den Flugblätter, die Hubschrauber in den vergangenen Tagen im Norden Syriens abwarfen. „Nehmt unsere Versöhnungsofferte an“, beschwor das Assad-Regime die Bewohner der Rebellenprovinz. „Sie wird euch von der Herrschaft der Terroristen befreien und das Leben eurer Familien retten.“ Mit dieser Propagandaaktion ist der Kampf um Idlib eröffnet – die entscheidende Phase im syrischen Bürgerkrieg. „Idlib ist nun das nächste Ziel“, kündigte Baschar al-Assad Ende Juli an. Videos zeigen seitdem endlose Kolonnen mit Militärgerät auf dem Weg in Richtung Norden, der Regierungszeitung „Al-Watan“ zufolge der größte Aufmarsch seit 2011.

 

Er werde jeden Zentimeter zurückerobern, schwor der Diktator, der sich nun kurz von dem Ziel sieht. Doch anders als bei den Schlachten um Ost-Aleppo, Ost-Ghuta und der südlichen Enklave Daraa ist die politische und militärische Lage im Norden Syriens für sein Regime deutlich vertrackter und unkalkulierbarer.Rund 2,5 bis drei Millionen Menschen leben in der gebirgigen Region Idlib, die vor 2011 lediglich 750 000 Einwohner hatte. Bis zu 1,5 Millionen sind Binnenflüchtlinge, darunter Zehntausende besiegte Assad-Gegner, die sich mit Bussen aus früheren Rebellenenklaven evakuieren ließen. Die Zahl der Bewaffneten wird auf 70 000 geschätzt, von denen die Hälfte der Al-Kaida-nahen Hayat Tahrir Sham (HTS) angehört. Deren Extremisten kontrollieren 60 Prozent der Provinz und lieferten sich mit konkurrierenden Rebellengruppen immer wieder blutige Scharmützel. Momentan herrscht ein fragiler Burgfrieden. Anfang August schlossen sich alle Nicht-Al-Kaida-Kämpfer zur sogenannten Nationalen Befreiungsfront (NLF) zusammen, einem von der Türkei unterstützten Dachverband, dessen ideologische Bandbreite von der moderaten Freien Syrischen Armee über Muslimbrüder-Verbände bis zu harten, nationalistischen Salafisten reicht.

Es könnte die nächste Massenflucht bevorstehen

In dieser zugespitzten Lage fällt der Türkei eine Schlüsselrolle zu. Idlib liegt vor ihrer Haustür. Zwölf Militärposten mit 1300 Soldaten, die offenbar jüngst mit Boden-Luft-Raketen ausgerüstet wurden, hat Ankara wie einen Ring um das Gebiet gelegt. Eine Offensive Assads ist für Präsident Recep Tayyip Erdogan eine „rote Linie“, auch weil dies die größte Flüchtlingstragödie des siebenjährigen Bürgerkriegs auslösen könnte. Sollte die Türkei von Verzweifelten überrannt werden, könnte auch die nächste Massenflucht über den Balkan bevorstehen. Bislang will Putin seinen Schützling Assad offenbar von einer offenen Feldschlacht abhalten, dafür aber fordert er die ersten europäischen Milliarden für den Wiederaufbau Syriens. Seinen russischen Sondergesandten für Syrien ließ er dieser Tage Berichte über eine Offensive kategorisch als „Gerüchte“ dementieren. „Eine Großoperation in Idlib steht nicht zur Debatte“, sagte Alexander Lavrentiev.

Gleichzeitig ist dem Kreml jedoch das Treiben der radikalen HTS ein Dorn im Auge. Mehr als zwanzig Drohnenangriffe flogen die Extremisten auf die zentrale russische Luftwaffenbasis Hmeimim nahe der syrischen Hafenstadt Latakia. Die Gefahren, die von Idlib ausgingen, seien enorm, warnte Russlands Emissär Lavrentiev. Moskau hoffe, dass die gemäßigten Rebellen und „unsere türkischen Partner“ die Lage in den Griff bekämen. Und so könnte Ankara versuchen, mithilfe der verbündeten Nationalen Befreiungsfront die Al-Kaida-Brigaden zurückzudrängen, ohne eine offene Konfrontation loszutreten. „Wir wollen die moderate Opposition von den Terroristen trennen“, so der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu auf einer Pressekonferenz mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow. Die Terroristen seien bei den moderaten Gruppen und der Zivilbevölkerung verhasst, „darum sollten wir alle zusammenarbeiten“.Im Gegenzug bekäme die Provinz Idlib einen gewissen Autonomiestatus – garantiert durch Russland und die Türkei. Dem Assad-Regime könnten beide Staatschefs als Kompromiss die Rückeroberung von Randbezirken anbieten, im Süden Richtung Hama und im Westen Richtung Latakia, was die Rebellenenklave im Kern intakt ließe.

Assad braucht die russsische Luftunterstützung

Assad weiß, ohne massive russische Luftunterstützung kann er die Aufständischen nicht besiegen. Auch wird er nicht riskieren, sich mit Wladimir Putin offen zu überwerfen. Insofern könnte sich der Diktator zunächst einmal mit einer Offensive in Etappen abfinden, wohl wissend, dass er später nach und nach weitere Landstriche unter seine Kontrolle bringen kann.

Insofern werden die kommenden Wochen zeigen, wie groß der Einfluss Russlands auf das syrische Regime und die vom Iran gesteuerten Milizen wirklich ist. „Russland hat längst nicht alles so unter Kontrolle, wie es aussieht“, meint Riad Khawija, Chef des Institute for Near East and Gulf Military Analysis in Dubai. In das gleiche Horn stößt Charles Lister vom Washingtoner Middle East Institute. Leider gebe es aus den bisherigen Erfahrungen in Syrien keine Belege dafür, „dass zurückhaltende Worte Russlands am Ende auch zurückhaltende Taten nach sich ziehen“. Sollten russische Stellungnahmen wieder stärker das Thema „Terrorgruppen“, also HTS und Al Kaida, in den Vordergrund rücken, müsse man davon ausgehen, dass eine Militäroffensive näher rücke. Momentan suggerierten Stellungnahmen aus Moskau zwar noch das Gegenteil. Insgesamt aber sehe es so aus, schreibt Lister, „dass sich die Gründe für eine Regimeoffensive eher verstärken als verringern“.