Im Ziv Medical Center im Norden Israels werden Bürgerkriegsopfer aus dem syrischen Nachbarland behandelt. Der ärztliche Auftrag ist den Medizinern des Krankenhauses wichtiger als die Erzfeindschaft – und die horrenden Kosten.

Safed, Israel - Layla ist 15 Jahre alt. Im syrischen Bürgerkrieg wurde das Mädchen von einer Splitterbombe getroffen. Ihre Beine wurden ganz oder teilweise weggerissen. Als sie aufwachte, war sie plötzlich weit weg von zu Hause. Noch schlimmer: das Krankenhaus, in dem sie liegt, gehört einem Volk, das – so hat sie es von klein auf gelernt – ihr ärgster Feind ist: Israel.

 

Layla liegt im Ziv Medical Center bei Safed im Norden des Landes, unweit des Sees Genezareth gelegen. Israelische Ärzte haben Laylas linkes Bein gerettet. Mit Hilfe einer Prothese, so hoffen die Mediziner, kann sie bald wieder laufen lernen. Ein US-Filmteam ist zu ihr ins Zimmer gekommen, um über ihre ungewöhnliche Krankengeschichte zu berichten. „Ich in froh, hier wird mir sehr gut geholfen“, sagt Layla.

Verletzte werden entlang der Grenze abgelegt

Das Mädchen ist eines von mehr als 400 Opfern des syrischen Bürgerkriegs, die seit Mitte 2013 hier behandelt wurden. Alles begann vor anderthalb Jahren an einem Samstagabend. Israelische Militärs stoppten mit einem Transporter vor dem Krankenhaus. Drinnen lagen sieben syrische Männer, schwer verwundet. Eine Grenzpatrouille hatte am Fuße der Golanhöhen junge Männer mit abgerissenen Gliedmaßen gefunden. Was tun? Sie brachten sie ins nächstgelegene Krankenhaus.

Hier, elf Kilometer vom Libanon, 30 Kilometer von Syrien entfernt, werden zurzeit elf Patienten aus Syrien behandelt, in der Regel ist jeder fünfte davon minderjährig. Der syrische Bürgerkrieg hat den Alltag des mittelgroßen Krankenhauses durcheinandergewirbelt. Ziv Medical Center: 327 Betten, 22 Intensivmediziner, 1200 Mitarbeiter, 8500 Operationen im Jahr, hat normalerweise ganz andere Sorgen. Genetische Defekte von Patienten aufgrund von innerfamiliären Heiraten etwa. Der medizinische Betrieb ist auf die außergewöhnlich hohe Zahl von Geburten – 3500 pro Jahr – eingestellt. Doch nun ist die Intensivstation meist zur Hälfte von Patienten aus dem befeindeten Nachbarland Syrien belegt – und es stellen sich ganz neue Fragen.

Gegrummel in der Mitarbeiterkantine

Manchmal, wenn Anthony Luder in der Kantine sitzt, hört er Gespräche, die der Chefarzt gut verstehen kann. „Diese Leute wollten uns bis vor Kurzem umbringen“, sagen manche Mitarbeiter des ohnehin stark ausgelasteten Hauses, „und jetzt, wo sie anfangen, sich gegenseitig umzubringen, helfen wir ihnen.“ Der Leiter der Pädiatrie findet aber, dass er und seine Kollegen keine Wahl haben. „Wir müssen das tun, wir haben das nicht selbst in der Hand“, sagt der gebürtige Brite. Die Angehörigen der Verletzten wüssten genau, in welchem Rhythmus die israelischen Patrouillen die Grenze abfahren. Die Soldaten fänden dann meist völlig verlassene Verwundete vor, selten säße auch ein Angehöriger dabei – so wie die Mutter in Laylas Fall.

Eine wirkliche Wahl haben die Soldaten nicht, sagt Luder. „Das ist eine riesige menschliche Katastrophe, die nur 30 Kilometer von hier entfernt stattfindet.“ Sein Kollege, der Chirurg Shoukri Kassis, sagt es noch direkter: „Wenn man die Geschichten der Opfer hier hört, dann ist es egal, ob man Arzt ist oder nicht – man muss selbst weinen.“

Die Feinde auf dem Krankenbett

Es scheint grotesk: „Die Syrer waren die brutalsten und schlimmsten Feinde, die wir je hatten“, sagt Anthony Luder. Die Kinder dort hätten gelernt, „dass wir Israeli ihr Blut trinken und ihre Leber essen wollen“. Gleichzeitig sei die Grenze zu Syrien über Jahre hinweg „die langweiligste Grenze der Welt“ gewesen – ein Gleichgewicht der Abschreckung. Doch seit 2011 hat sich die Welt im Norden Israels verändert. Im Bürgerkrieg sind 200 000 Menschen ums Leben gekommen, 600 000  wurden teils schwer verletzt. Bisher wurden mehr als 1000 syrische Verletzte in drei israelischen Hospitälern behandelt, die meisten davon im Ziv Medical Center.

Medizinische Alternativen gibt es praktisch nicht: Syrien ist nicht sicher, viele Ärzte und Pflegekräfte sind tot, Krankenhäuser großteils zerstört. Die Versorgung in den Flüchtlingscamps ist mitunter dürftig, zudem kostet sie Geld. Im Ziv Medical Center ist sie umsonst. Zumal westliche Mediziner wie etwa Jörg Martin, Anästhesist und Chef der Regionalen Klinikenholding RKH mit Sitz in Ludwigsburg, dem Haus kürzlich bei einem Besuch einen modernen medizinischen Standard bescheinigt. Martin erwägt, ein Austauschprogramm von Ärzten zwischen Ludwigsburg und dem Ziv Medical Center zu beginnen. Dort könnte die Ärzte aus Baden-Württemberg „eine ganz andere, sehr elementare Art von Notfallmedizin kennenlernen“, sagt der Klinikchef Martin.

Hohe Spendenbereitschaft der Israeli

Doch wer bezahlt die teure, oft spezialisierte orthopädische Behandlung? Die Kosten lägen in seinem Haus bisher insgesamt bei rund drei Millionen Dollar, so der inzwischen nicht mehr amtierende Direktor des Krankenhauses, Oscar Embon, vor wenigen Monaten gegenüber US-Medien. Und ein Ende ist nicht absehbar. „Im Moment zahlt niemand diese Rechnungen.“ Doch das Erstaunliche ist: viele Menschen in Israel scheinen sich um die alte Erzfeindschaft zu Syrien kaum zu scheren. Als Hinderungsgrund für die Behandlung der Opfer gilt sie jedenfalls nicht. „Es gibt eine riesige Spendenbereitschaft der Bevölkerung“, sagt der Chefarzt Anthony Luder. „Die Menschen scheinen es zu akzeptieren.“ So sei beispielsweise Laylas teure Prothese mit Spenden finanziert worden.

Ganz ungefährlich ist der Krankentransport ins Ziv Medical Center allerdings nicht. Die Grenzsoldaten nehmen dabei ein Risiko in Kauf. „Einmal lag dort ein Mann mit einer scharfen Granate in der Tasche“, sagt Luder. Wen sie behandeln, und was nach der Behandlung aus den Patienten wird? Das wissen die Mediziner meist nicht, wollen es auch gar nicht wissen, sagt der Chefarzt. Es sind häufig junge Männer im kriegsdienstfähigen Alter darunter, bei denen sich zwangsläufig die Frage stelle, auf welcher Seite sie gekämpft hätten. Ob sie gerade einen Kämpfer der radikalislamischen IS-Milizen, einen Rebellen, einen staatstreuen Soldaten oder ein ziviles Opfer behandeln, sei meist nicht zu klären. Zwar funktioniere die Kommunikation mit den Patienten meist – Arabisch sei im Krankenhaus zweite Arbeitssprache –, doch die Ärzte und Pflegekräfte suchten in Anbetracht der meist gravierenden Verletzungen nicht nach Antworten. „Wir stellen keine Fragen. Manchmal ist es besser, nichts zu wissen.“

Layla will wieder zurück nach Hause

Die 15-jährige Layla steht nicht in Verdacht, eine IS-Kämpferin zu sein. Sie hat eigentlich nur einen Wunsch: wieder zurück nach Hause zu gehen, dort, wo ihre Familie lebt. Dabei weiß sie, dass das nicht einfach wird. „Es gibt in Syrien zurzeit keinen einzigen sicheren Ort“, sagt sie. Doch die Welt solle wissen, dass Syrien dringend Hilfe brauche, um diesen blutigen Bürgerkrieg zu beenden, „damit es unserem Land eines Tages wieder so gutgeht, wie es früher mal war“.