Die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien wächst und wächst. Bereits 30.000 sind im Camp in Zaatari, das sie nicht verlassen dürfen. Mit bis zu 120.000 Menschen wird dort bis zum Winter gerechnet. Die humanitäre Lage spitzt sich zu.

Amman - Die morgendliche Blechlawine wälzt sich über die Zahran Street in Amman. Am Rande der verstopften vierspurigen Verkehrsader, die den Westteil der jordanischen Hauptstadt durchschneidet, reiht sich eine Nobelherberge an die nächste: Luxushotels, Behörden, Botschaften und immer wieder mächtige Baustellen, wo neue schicke Villen und Hotels entstehen. Amman wächst. Das Gleiche gilt für die Zahl der Menschen, die das kleine Königreich östlich des Jordanflusses bevölkern. Nach West-Amman kommen vor allem ausländische Geschäftsleute, Diplomaten oder wohlhabende Araber aus den Golfstaaten.

 

Einige Kilometer entfernt kommen Gäste an, die im Land weniger willkommen sind. Nur eine knappe Autostunde nordöstlich der Hauptstadt wohnen viele von ihnen auf einer anderen Großbaustelle, dem Flüchtlingslager Zaatari. Die Zeitung „Jordan Times“ hat es „die nächste Hölle“ genannt. Die Straße führt durch eine triste Steppenlandschaft und ist nur wenig befahren. Rechts und links erinnern mächtige Truppenübungsplätze des jordanischen Militärs daran, dass man sich in einer der konfliktträchtigsten Regionen der Welt befindet. Den Eindruck können auch ein paar Olivenhaine nicht überdecken. Wer den kleinen Ort Zaatari erreicht, hat es nicht mehr weit bis zum gleichnamigen Flüchtlingscamp. Zaatari ist zum Inbegriff der letzten Zuflucht für rund 30 000 Syrer geworden. Hält der Flüchtlingsstrom weiter an, könnten daraus bis zum Winter 120 000 werden. Männer, Frauen und vor allem Kinder, die aus Furcht um ihr Leben über die rund 20 Kilometer entfernte jordanisch-syrische Grenze kamen.

Unmenschliche Bedingungen

Auf der jordanischen Seite ist die Gefahr, durch die Luftwaffe Assads oder Kugeln seiner Gegner zu sterben, gebannt. Viel mehr ist es aber nicht, was die verzweifelten Bürgerkriegsflüchtlinge in diesem staubigen, gottverlassenen Niemandsland erwartet. „Wir sind Menschen, keine Tiere“, beklagt Mohammad Jamal die Zustände im Lager. „Wir sind hier zwar in Sicherheit, aber wir leben unter unmenschlichen Bedingungen.“ Der Familienvater bewohnt zusammen mit seiner Frau und den zehn Kindern eines von Abertausenden Zelten.

Das Oberhaupt der Großfamilie sitzt im kargen Vorzelt auf dem Boden und erzählt, wie sie hierher gekommen sind: Vier Stunden hat das letzte und gefährlichste Teilstück ihrer Flucht aus Damaskus gedauert. „Uns sind Kugeln um die Ohren geflogen“, erinnert er sich. Schon in ihrer Heimat hatten sie mitansehen müssen, wie die Regimetruppen wahllos Unschuldige getötet haben. Die Erlösung kam, als die jordanischen Sicherheitskräfte sie auf der anderen Seite der Grenze aufgriffen und nach Zaatari brachten. „Wir kamen mit nichts“, sagt Jamal und zeigt auf seinem Umhang: „Den gaben mir die Jordanier.“

Wenige Schritte entfernt bildet sich innerhalb von Minuten eine mehr als hundert Meter lange Schlange hinter einem Lastwagen, der frisches Trinkwasser ins Camp geliefert hat. Vor allem Frauen und Kinder tragen die Sechserpacks durch den feinen Wüstensand davon. Das Wetter ist an diesem Tag wenigstens gnädig zu den Flüchtlingen. Wind und schwere Sandstürme machen das ohnehin triste Lagerleben häufig zur Tortur. Dazu kommt die Gefahr durch Schlangen und Skorpione.

Helfer an ihrer Kapazitätsgrenze

Das Camp wird von den Vereinten Nationen in Zusammenarbeit mit der jordanischen Regierung geleitet. Die Versorgung der Menschen organisieren eine Reihe internationaler Hilfsorganisationen unter dem Dach des Flüchtlingswerks UNHCR. Doch die Helfer arbeiten an ihrer Kapazitätsgrenze. Binnen weniger Wochen haben sie überirdische Stromleitungen für Straßenbeleuchtungen errichtet, Wasserrohre verlegt und sanitäre Anlagen aufgebaut.

Mohammad Jamal weiß die Arbeit der Hilfskräfte zu schätzen. Er dankt König Abdullah und dem Staat Jordanien. Gleichzeitig geißelt er die zögerliche Haltung der Staatengemeinschaft im Syrienkonflikt verzweifelt mit scharfen Worten: „Wenn die westliche Welt einen Vogel aussterben sieht, versucht sie ihn zu retten. Wenn wir sterben wie die Fliegen, kommt niemand.“ Sein ältester Sohn leide an einer chronischen Darmerkrankung, auf ärztliche Behandlung warte er jedoch.

„Nicht dem Tod entronnen, um hier zu sterben“

Permanent passieren schwere Lastwagen die Hauptstraße durch das Camp. Sie bringen neben Nahrungsmitteln und Wasser auch Medikamente und Baumaterialien für immer mehr Zelte und Sanitärtrakte. Es wird viel getan, und doch ist es viel zu wenig. „Wir sind doch nicht dem Tod entronnen, um hier zu sterben“, sagt ein aufgebrachter Vater, der seinen zweijährigen Sohn im Arm hält. Dessen jüngerer Bruder, gerade neun Monate alt, habe seit drei Tagen kein Milchpulver mehr bekommen. „Wir dürfen nicht raus, um es einzukaufen, und unsere Verwandten außerhalb des Camps dürfen nicht rein, um es uns zu bringen.“ Ein anderer Mann muss wie viele Erwachsene seit Wochen die gleichen Kleider tragen. Auf den Wegen zwischen den Zelten türmt sich der Plastikmüll zu Hügeln auf, weil zu wenige Tonnen aufgebaut sind.

Erst in der Vorwoche sind Proteste gegen die Zustände im Lager eskaliert, dabei wurden mehr als 25 Menschen teilweise schwer verletzt. Zu den Hintergründen des Aufstandes kursiert allerdings auch das Gerücht, der Geheimdienst von Syriens Despot Assad habe einige Leute eingeschleust, um Unruhe zu stiften. 200 Personen mussten das Lager nach den Tumulten in Richtung ihrer Heimat verlassen – „auf eigenen Wunsch“ hin, wie es offiziell heißt, da die jordanische Regierung versichert hat, niemanden zurück nach Syrien abzuschieben.

Winter wird zur Probe

Ein anderer Weg als in Richtung des Bürgerkrieges führt derzeit nicht aus dem von der jordanischen Armee bewachten Camp heraus. Zaatari ist die Endstation für viele verzweifelte Familien. Ausgang völlig ungewiss. „Es liegt in Gottes Hand“, sind die Worte, die immer wieder fallen.

Auch die Zeit spielt gegen die Flüchtlinge. Noch sinken die Temperaturen, die tagsüber leicht auf 40 Grad und mehr steigen, nachts nur auf knapp 15 Grad ab. Nicht mehr lange, und es wird während der Nächte unerträglich kalt in den Zelten. Die Decken allein, die bereits jetzt massenhaft verteilt werden, können dagegen nichts ausrichten. Deswegen wurde bereits damit begonnen, mobile Wohncontainer nach Zaatari zu bringen. Ob rechtzeitig auch genug davon da sein werden, kann heute niemand sagen. „Die Bedürfnisse steigen schneller als die Spenden, die uns erreichen”, sagte der oberste UNHCR-Repräsentant in Jordanien, Andrew Harper. Zuvor hatte der jordanische Planungsminister Jafaar Hassan in einem dramatischen Appell 700 Millionen Dollar von der Weltgemeinschaft eingefordert. Anderenfalls, so Hassan, könne man den Flüchtlingsstrom nicht mehr bewältigen. Insgesamt sind nach offiziellen Angaben aus Amman bereits bis zu 160.000 Syrer ins Land gekommen. Rund 100.000 davon gelten laut UN als hilfsbedürftig.

Vom Tod des Vaters im Fernsehen erfahren

Dazu zählt auch die Familie von Falak Um-Hamza, die nicht im Camp ist – vielleicht noch nicht. Am späten Nachmittag sitzt die 30-jährige Syrerin mit ihren fünf Kindern in einer spartanisch eingerichteten Wohnung im ärmeren Nordosten Ammans und erzählt, wie die Kinder ihren Vater verloren haben. Er war ein Kämpfer der revolutionären Freien Syrischen Armee (FSA). Die Familie lebte in dem religiös durchmischten Stadtviertel Job Jandalh in der Rebellenhochburg Homs. Während eines Treffens des örtlichen FSA-Kommandos in ihrem Haus sei die Lage eskaliert, nachdem benachbarte Anhänger des Regimes aufgetaucht waren. Ihr Mann starb wie mehrere andere auch im Kugelhagel vor dem Haus, in dem sich die Mutter mit den Kindern versteckt hielt. Die Leichen der Opfer wurden weggebracht. Vom Tod des Vaters erfuhr die Familie erst, als sie seine Beerdigung im Fernsehen sahen.

Ein vom Bildschirm aufgenommenes Handyfoto bleibt die einzige Erinnerung an ihn. „Diese Erfahrung lässt sich nicht mit Worten beschreiben.“ Die Kinder sind traumatisiert, vom Verlust des Vaters und von dem, was danach noch kam: die mühevolle und gefährliche Flucht nach Jordanien vier Monate später. „Wir sind nachts gegangen, konnten nur flüstern und mussten durch ein Minenfeld“, erinnert sich Falak. Nun sitzen sie im Haus der Schwester in Amman, ohne zu wissen, wie lange sie bleiben und wo sie als Nächstes hinsollen. Zunächst waren sie in der Stadt Mafraq unweit der syrischen Grenze gelandet. Dort bekamen sie über ein von der Hilfsorganisation Care initiiertes Projekt ein Startkapital von 150 Jordanischen Dinar (rund 140 Euro). Die Kinder konnten zur Schule gehen, ihre Mutter suchte sich Arbeit und wurde zudem durch ein jordanisches Hilfsprojekt unterstützt.

Lieber sterben als nach Zaatari

Doch nach der Eröffnung des Lagers änderte sich ihre Situation. „Wir bekommen keine Hilfe mehr, und die Behörden wollen, dass wir nach Zaatari gehen“, sagt die Mutter. Auch in der Nachbarschaft waren sie plötzlich nicht mehr willkommen, wurden sogar bedroht. Nun stehen sie vor der Frage, ins Camp zu gehen, von dem sie viel Schlechtes gehört haben, oder in Amman zu bleiben, wo das Leben auf die Dauer zu teuer ist und die Kinder vielleicht nicht mehr zur Schule gehen können. Sie zieht eine dritte Alternative in Erwägung. Mit gebrochener Stimme sagt sie: „Ich will lieber zurück nach Syrien gehen und sterben, als mich in Zaatari einsperren zu lassen“.