Kontrollierte Evolution unter der Käseglocke: Nach einigen schwächeren Romanen zeigt sich T. C. Boyle in seinem neuen Werk „Die Terranauten“ wieder in Hochform.

Stuttgart - T.Coraghessan BoylesRomane sind oft Versuchsanordnungen: Menschliche Laborratten, in geschlossenen Systemen aufeinander gehetzt, zeigen unter den erschwerten Bedingungen kontrollierter Evolution und räumlicher Enge „Anomalien“ in ihrem Verhalten, die Rückschlüsse auf die Verfassung der Außenwelt zulassen. So konfrontierte Boyle schon mal fanatische Gesundheitsapostel mit Fleischfressern („Willkommen in Welville“), idealistische Ökoaktivisten mit den Unbilden einer ungezähmten Natur („Ein Freund der Erde“) oder eine Hippie-Kommune mit dem Schnee und Eis von Alaska („Drop City“). Boyle ist ein Grüner, aber nicht verbissen, naiv oder gar humorlos. Er weiß, dass nicht nur Vater Staat, sondern auch Mutter Erde ungemütlich werden kann: Im Garten Eden haben auch Disteln, Stechmücken und Skorpione ein Lebensrecht.

 

Wir hier drinnen, ihr dort draußen: Die Logik von Boyles prä- und postapokalyptischen Laborversuchen gilt auch und vor allem für das „menschliche Experiment“ in seinem jüngsten Roman. Acht Terranauten – vier Frauen, vier Männer – lassen sich für zwei Jahre in Ecosphere 2, einem High-Tech-Terrarium in der Wüste Arizonas, luftdicht einschließen: Unter wissenschaftlicher Aufsicht und den Augen der Öffentlichkeit sollen hier, auch im Hinblick auf Marsreisen, Möglichkeiten und Grenzen autarker Selbstversorgung und autonomen Lebens erforscht werden. Tatsächlich betrieb die Nasa in den 1990er Jahren bei Tucson ein ähnliches Projekt: „Biosphere“ wurde nach zwei (unter anderem an Ameisen- und Kakerlakenplagen) gescheiterten Versuchen abgebrochen und ist heute ein Ruine des grenzenlosen Zukunftsoptimismus.

Neues Leben im Öko-Gefängnis

Auch bei Boyle ist bereits eine Ecosphere-Mission gescheitert: Nach einem Unfall wurde Hilfe von außen angerufen, ein klarer Verstoß gegen das Prinzip „Nichts rein, nichts raus“. Ecosphere 2 muss unbedingt gelingen, und die Chancen stehen gut. Die E-2-Crew ist zwar nicht gerade ein verschworenes Team von Freunden, aber wild entschlossen durchzuhalten. Wie in allen Kommunen Boyles gibt es auch im „Wissenschaftstheater“ unter der Glaskuppel jede Menge Rivalitäten, Eifersucht, Futterneid und natürlich auch Sex und Genderkonflikte; nur der hohe innere und äußere Druck bewahren das „Bio-Zyklotron“ vor dem Auseinanderbrechen. E 2 ist Science-Fiction-Labor, Öko-Kloster, Luftblase, eine futuristische Version von Emersons altem Traum vom einfachen Leben im Einklang mit der Natur. Und nicht zuletzt ist E 2 auch eine Art Big-Brother-Container, von außen gesteuert und manipuliert von einem Rat dubioser „Visionäre“ und Milliardäre, die nicht umsonst biblische Spitznamen wie Gottvater, Jesulein und Judas tragen.

Gaffer und Touristen an den Besucherfenstern, Überwachungskameras und Spione unter der Kuppel reduzieren die Privatsphäre in E 2 auf Null. Tom, der nerdige „Techniklurch“, muss nachts ins Gebüsch gehen, wenn er seinen sexuellen Triebstau auflösen will. Ausgerechnet in diesem sterilen Öko-Gefängnis entwickelt sich neues Leben. Die Affäre zwischen Dawn, der attraktiven Nutztierbeauftragten, und dem virilen Biologen Ramsay bleibt nicht ohne nachhaltige Folgen. Das sorgt für böses Blut. Der Teamarzt fürchtet gynäkologische Komplikationen, Gretchen, die Wildbiotopbeauftragte, rast vor Eifersucht, das Kontrollzentrum hat prinzipielle Einwände. Dawn aber will ihr Kind austragen, koste es was es wolle, und das beschließt dann auch Gottvater: Eve, das erste Ecosphere-Kind, soll das nachlassende Interesse von Zuschauern und Sponsoren neu beleben.

Die Terrarium-Soap wuchert durch alle Vegetationszonen

Nach einigen schwächeren Romanen zeigt sich Boyle in den „Terranauten“ wieder in Hochform. Natürlich ist es eine Komödie, manchmal nur eine Seifenoper, aber es geht immerhin um letzte Menschheitsfragen oder jedenfalls Probleme grün-alternativer Intellektueller: Wie viel Trieb- und Spaßverzicht ist uns die Rettung der Welt wert? Gibt es im All und auf der Arche Noah auch genug Privatsphäre für Quickies und abweichende Meinungen? E 2 ist ein Miniaturmodell unseres Planeten, und das gilt auch für seine Bewohner. Boyle würzt seine Wissenschafts- und Medienkritik wie gewohnt mit viel derber Komik, sentimentalen Momenten und allerlei Ökowissen über sanfte Geburten, Buntbarschzyklen und Prunkwinden.

Die über sechshundert Seiten und fünf Vegetationszonen wuchernde Terrarium-Soap hätte ein paar Kürzungen gut vertragen können, aber Boyle verteilt die Last der Erzählung geschickt auf drei sehr unterschiedliche Stimmen. Dawn ist die naive Heldin, Herz und Seele des Projekts und am Ende die „heilige Ökomutter“ eines neuen Geschlechts von Terranauten. Ramsay ist der Lügner, Schauspieler und Macho, ein sympathischer Hallodri, der trotz strengster Verbote raucht, trinkt und vögelt. Die Schlange im künstlichen Paradies ist Linda, angeblich Dawns beste Freundin, in Wahrheit eine hinterhältige Intrigantin. So macht Boyle in seinem 26. Buch aus einem ernsten Problem – Zusammenleben auf engstem Raum, mit begrenzten Ressourcen und täglich neu auszuhandelnden Regeln – eine unterhaltsame Castingshow. Und man fällt nicht einmal dort vom Gottvater der Bio-Literatur ab, wo er die Querelen, Ängste und Hoffnungen seiner Geschöpfe ein wenig zu länglich schildert.

T.C.Boyle: Die Terranauten. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag München, 604 Seiten, 26 Euro.