Körperkunst in Oberschwaben: das Museum Villa Rot zeigt gestochen scharfe, provozierende Werke.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Burgrieden - Donald Ed Hardy ist nicht zur Vernissage im Landkreis Biberach gekommen. Der kalifornische Tätowierrentner hat keine Lust mehr. Er war der Tattoo-Pionier, beschäftigte sich in den 70er Jahren als erster Künstler und Designer mit dem bis dato vulgären Genre. Seine Motive waren leuchtend bunt statt trüb blau, er stach keine Anker, sondern aus Japan importierte Drachen, Geishas, Schlangen, die es sogar in die Museen schafften. Durch ihn wurde das Schmuddelkind Tattoo zum Popstar. Wegen Hardy ist heutzutage jedes Champions-League-Spiel eine Fachmesse für Großflächentattoos und kein Roter-Teppich-Promi ohne Konfuzius-Weisheit auf der Brust denkbar. Früher waren Tätowierungen Versprechen, Warnungen, Reizungen. Heute sind sie verkörperte Langeweile.

 

Vor elf Jahren gründete Don Hardy sein Modelabel „Ed Hardy“. Zwei Jahre später kaufte Christian Audigier die Masterlizenz für die Marke und führte „Ed Hardy“ zu Megaumsätzen. Erst trug Madonna das Label, dann Stefan Effenberg, dann eroberte es die ländlichen Räume. Heute gibt es Ed-Hardy-Wodka, Ed-Hardy-Autofußmatten, Ed-Hardy-Pastillen und die Facebook-Seite „Dank Ed Hardy erkennt man Vollidioten jetzt schon von Weitem“. Auf seine Marke ist Don Hardy nicht mehr stolz, Audigier bezeichnet er als „Nullpunkt von allem, was derzeit mit der Zivilisation schiefläuft“. „Hardy hat immer noch an der Banalisierung und Entwertung seines Labels zu knabbern“, sagt Stefanie Dathe.

Die 45-jährige Kunsthistorikerin ist Museumschefin der Villa Rot in der oberschwäbischen Kleinstadt Burgrieden. Raymond Fugger, Edler des Königreichs Ungarn und Spross der berühmten Kaufmannsfamilie, erbaute das Schlösschen vor hundert Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab der Dirigent Hermann Hoenes mit seiner Gattin Feodora, eine kapriziöse Majorstochter und Elektrizitätswerksbesitzerin, hier Gesellschaften und pflegte seine Sammlung asiatischer Kunst. Heute nähert sich Stefanie Dathe in der Villa Rot den „Grenzbereichen der Kunst“, wie sie sagt. Sie machte schon Ausstellungen über Haare und Insekten. Zeigte Rauminstallationen aus Zucker und die Afrikasammlung von Georg Baselitz. Veranstaltete die 1. Europäische Quilt-Triennale. Jetzt also Hautkunst und Tattoos.

Ötzi, die Gletschermumie, war tätowiert, Germanen, Kelten, die frühe Christen und die Asiaten waren es, Südseevölker sowieso. Im Osmanischen Reich trugen bosnische Katholikinnen tätowierte Kreuze als Schutz gegen die Türken. So wurde ihnen gleichsam in die Seele geschrieben: „Ihr könnt mir nicht alles rauben.“ In Pariser Armenspitälern versah man Mütter und ihre Kinder im 17. Jahrhundert mit identischen Motiven wie beim Memoryspiel, um der Flut von ausgesetzten Babys Herr zu werden. Im 18. Jahrhundert stach man Tiroler Kindern, wenn sie wegen der bitteren Armut in der Heimat als Arbeitskräfte ins Ausland gingen, Punkte in die Unterhaut. Erinnerungsmale für die Auswanderer, Wiedererkennungszeichen für die Familie.

In Europa galten Tätowierungen lange Zeit als Blasphemie

Ansonsten waren Tätowierungen im christlichen Europa Blasphemie und somit tabu. Bis James Cook 1775 auf seiner Adventure den über und über tätowierten Omai aus Polynesien mitbrachte. Eine Sensation, die man auf Jahrmärkten und in Schlössern herumreichte. Tattoos wurden chic und modern. Die Unterschicht und die Noblesse standen Schlange vor Tätowierläden. Nur das Bürgertum traute sich nicht. Beliebtes Motiv bei den damaligen Damen: Strumpfhalter. Selbst Sissi, Kaiserin von Österreich, ließ sich 1888, es soll in einem Hafenlokal am Mittelmeer passiert sein, einen Anker auf die Schulter ritzen. Franz Joseph fand es entsetzlich.

Zur Jahrhundertwende waren die wilden Zeiten allmählich vorbei, Tattoos wieder abartig und asozial wie eh und je. Der Hautstich überlebte in Zuchthäusern und auf Jahrmärkten, wo ganzkörpertätowierte Damen sich hart an der Grenze des Schicklichen vor Besuchern entblößten. Walter Schönfeld (1888–1977), Koryphäe für Syphilisforschung und Direktor der Heidelberger Hautklinik, hat über 40 Jahre eine extraordinäre Sammlung zum Thema Tätowierungen zusammengetragen. Im Burgriedener Museum gehört ihr ein ganzer Raum.

Aber genug der Vorrede. Trommelwirbel. Gespräche einstellen. Licht aus, Spot an. Herzlich willkommen im fantastischen, superbombastischen Kuriositätenkabinett der Villa Rot. Bühne frei für Fräulein Marie, die „Perle vom Rhein“, die ihre Röcke für das geneigte Publikum lüftet. Für Miss Helio, „tätowierte Kolossaldame“ und „beste Wahrsagerin“. Für die magische Genofeva Forst, vom Maler Otto Dix als „Suleika, das tätowierte Wunder“ verewigt.

Wolfgang Flatz riskiert seine Haut

Vorhang auf für Wolfgang Flatz. Er riskiert seine Haut, seine Kunstaktionen tun weh. 1979 steht er in Stuttgart nackt vor einer Wand, die Besucher werfen Dartpfeile auf ihn, der Schützenkönig bekommt 500 Mark Preisgeld. In der alten Synagoge von Tiflis baumelt Flatz kahl geschoren, gefesselt, kopfüber wie Schlachtvieh an einem Seil, lässt sich zwischen zwei Stahlplatten hin- und herknallen. Im Zarenreich machte man Rebellen zu menschlichen Glockenklöppeln, um sie zum Reden zu bringen.

Die Villa Rot zeigt Fotos seiner frühen Tätowierungen als wandfüllende Körperkunst. Die Hände betend in Dürer-Pose. Links „give“, rechts „take“. Auf dem Oberarm ein digitaler Computerbarcode wie auf Supermarktprodukten. Über seiner Scham die altgriechische Redewendung „Molon Labe“ – „Komm und hol sie dir“, soll König Leonidas von Sparta bei der Schlacht am Thermopylenpass gerufen haben, als ihn der Perserkönig Xerxes aufforderte, die Waffen zu strecken. „Ich glaube, dass ich zu dem heutigen Tattoo-Trend beigetragen habe – was ich im Nachhinein nicht gutheißen kann“, wird Flatz im Ausstellungskatalog zitiert. Nach dem Tod will er seine Haut in einem renommierten Auktionshaus versteigern lassen. Wenn das wirklich klappen sollte, würde er wohl wieder zum Trendsetter.

Während Flatz bei seiner Aktion „Fleisch“ eine tote Kuh aus einem Hubschrauber wirft, geht Wim Delvoye schonender mit den Werkstoffen um. In seiner chinesischen „Art Farm“ tätowiert er Hausschweine, macht deren Stall zum Museum. Auch Donata kommt unter die Nadel. Ihr werden unter Vollnarkose Motive aus der Free-Rider-Szene auf den Schweinerücken gestochen. Als sie wieder zu Bewusstsein kommt, ist sie Kunst. Sie stirbt nach langjähriger Branchentätigkeit eines natürlichen Todes. Jetzt sitzt sie ausgestopft im Oberschwäbischen. Marktwert: 175 000 Euro, mit Knochen.

Sierras Kunst an Tagelöhnern

Ursprünglich sind Tattoos Ausdruck von Würde, Stolz und Freiheit. Nicht bei Santiago Sierra. Er bietet 1998 einem armen Tagelöhner in Mexico City 50 Dollar, wenn er sich einen langen Strich auf den Rücken tätowieren lässt. Es wird nicht mal ein gerader Strich, nur liebloses Gesudel. Ein Andenken an den Tag, als er sich verkaufte. Vier kubanische Prostituierte geben ihre Rücken für eine Dosis Heroin her. Bei einer anderen Aktion sind es sechs zufällig auf den Straßen Havannas zusammengewürfelte Arbeitslose, die sich für 30 Dollar an die Wand stellen und eine über alle Rücken durchgehende Linie tätowieren lassen. Die Villa Rot dokumentiert die Entstehung des Kunstpuzzles, das nie wieder komplett sein wird.

Artur Zmijewskis Videoprojekt „80064“ zeigt den Auschwitz-Überlebenden Josef Tarnawa, den der Künstler zum Nachstechen der verblassten Lagernummer überredet hat. Auf dem Video ist zu sehen, wie sich Tarnawa, als die Tätowieraktion beginnen soll, sträubt und immer wieder betont, es sei gar nicht nötig. Aber der Künstler bleibt beharrlich. Bald wird deutlich: Tarnawa zögert auch aus Sorge, die Tätowierung könnte danach unecht wirken. Er will die Auschwitz-Nummer nicht verlieren. Am Ende steht dann doch in irritierend intensivem Blau „80064“ auf dem linken Unterarm. Und das KZ-Opfer fühlt sich „renoviert wie ein Möbelstück“.

Timm Ulrichs erklärt sich 1961 zum ersten lebenden Kunstwerk und organisiert eine Selbstausstellung. Dazu passend: die eigene Signatur als tätowiertes Echtheitszertifikat. Später lässt er sich „The End“ auf das rechte Augenlid stechen. Seitdem bedeutet schon ein Wimpernschlag sein Ende. Dazu sieht man in der Villa Rot Ulrichs Videoprojekt: stumm aneinandergereihte Schlussbilder von Hollywood-Filmklassikern. 60-mal „The End“.

Für seinen Spielfilm „Durchs Ich“ verschluckt Ulrichs eine Minikamera, die dann den Weg durch seinen Verdauungskanal aufnimmt. Die neun Stunden bis zum Ausscheiden schneidet Ulrichs auf Kinolänge zusammen. Was am Ende rauskommt, sind für den Körperkünstler „Bilder, die kein Reiseprospekt anbieten und kein Baedecker erläutern kann“.