Zwillinge in Stuttgart-Möhringen Doppeltes Glück und doppelter Stress

Benjamin (links) ist zwei Minuten älter als sein Bruder Yannick. Auf dem Bild sind die beiden knapp zwei Jahre alt. Foto: privat

Den Tag der Zwillingsbotschaft wird Silke Hassler aus Stuttgart-Möhringen nie vergessen. Und die anstrengenden ersten Jahre mit ihren Buben auch nicht.

Böblingen: Leonie Schüler (lem)

Es gibt Momente im Leben, die man auch Jahre später noch en détail nacherzählen kann, weil klar ist, dass gerade das Schicksal anklopft. Für Silke Hassler aus Möhringen war so ein Moment im Jahr 2007, als sie mit positivem Schwangerschaftstest zum Frauenarzt ging und der ihr beim Ultraschall zum regelmäßigen Herzschlag ihres Kindes gratulierte. „Dann sagte er plötzlich: ,Glückwunsch, das Herz ihres zweiten Kindes schlägt auch regelmäßig‘“, erzählt sie. Ihr Mann habe sofort gefragt, was denn der dritte Punkt im Ultraschall zu bedeuten habe. Doch das sei nur ihre eigene Blase gewesen, erinnert sie sich und lacht.

 

Zwillinge – das hatten die Hasslers nicht erwartet. „Das war überhaupt kein Thema“, sagt die 49-Jährige. „Wir sind aus allen Wolken gefallen.“ Phasenweise sei sie in Panik geraten und hätte sich gefragt, ob sie das schaffe. Denn ihr Mann hatte gerade einen neuen Job angetreten, für den er von montags bis donnerstags ins Ausland reisen musste. „Ich war die ersten Jahre quasi alleine“, sagt sie. Eltern und Schwiegereltern, die im näheren Umland wohnen, hätten jeweils einen und einen halben Tag geholfen, und zeitweise habe sie eine Haushaltshilfe engagiert. „Ich konnte nicht mehr“, erinnert sie sich an die Babyzeit mit ihren zweieiigen Zwillingen. Besonders der Schlafentzug habe an ihren Kräften gezehrt, denn oft sei es so gewesen, dass einer der beiden Jungs nachts gemeckert habe und der andere tagsüber grätig gewesen sei. Natürlich gebe es auch viele schöne Erinnerungen an die Babyjahre und ihre zwei „total süßen, lieben Knöpfe“, aber Silke Hassler ist ehrlich: „Es überwog an mancher Stelle die Anstrengung. Vier Jahre lang habe ich keine Nacht durchgeschlafen.“ Heute frage sie sich, wie sie die Zeit geschafft habe.

Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Das machen die 22-jährigen Stuttgarter Zwillingspärchen heute

Unterschiedliche Charaktere

Inzwischen sind aus den schlafverweigernden Babys 14-jährige Jugendliche geworden. Sie seien ganz normale Geschwister, die sich auch mal zanken und gegenseitig ätzend finden, sagt Silke Hassler über Benjamin und Yannick. „Wenn aber einer von außen dazwischen geht, dann geht kein Blatt Papier zwischen die beiden.“ Körperlich sei ihr Kräfteverhältnis ähnlich, gleichwohl gebe es charakterliche Unterschiede. Der zwei Minuten Ältere sei etwas dominanter und sage dem jüngeren Bruder gerne mal, was zu tun und zu lassen sei. Aber der Jüngere habe sich in den vergangenen zwei Jahren „da rausgeboxt“.

Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Geschwister, die auch zusammen arbeiten

Damit sich jeder Junge frei entfalten kann, haben die Eltern entschieden, die Kinder zwar auf dieselbe Grundschule, aber in unterschiedliche Klassen zu schicken. „Einer wollte unbedingt, dass der Bruder bei ihm ist, einer wollte unbedingt in eine eigene Klasse“, berichtet Hassler. „Der Getriezte wollte eigene Freunde haben.“ Auch im Gymnasium besuchen sie getrennte Klassen, da die Eltern denken, dass sie so eher eigene Persönlichkeiten entwickeln können und nicht ständig in einen Topf geworfen werden. Im Kindergarten, den beide gemeinsam besucht hatten, sei immer nur von „den Zwillingen“ gesprochen worden.

Haben die Jungs dadurch unterschiedliche Freundeskreise? „Nicht wirklich“, sagt Silke Hassler und lacht. Die guten Freunde seien die gleichen. Und auch das wichtigste Hobby ist dasselbe: Handball. Bislang hätten zwar beide in unterschiedlichen Vereinen trainiert, doch seit Neustem spielen beide für den SV Vaihingen – der Trainer habe Yannick abgeworben. „Mit dem Einverständnis vom Bruder“, ergänzt sie. Da sie auf ganz unterschiedlichen Positionen spielen – einer ist Links-, einer Rechtshänder – sollten sie sich nicht allzu sehr in die Quere kommen, hofft ihre Mutter.

Bloß nicht gleich aussehen

Und wie finden es die Jungs selbst, Zwilling zu sein? „Ab und zu nervt es, ab und zu ist es auch gut“, sagt Benjamin. „Dem kann ich zustimmen“, sagt Yannick. Derselben Meinung seien sie ansonsten selten, meint Benjamin, „oft aber auch nur, um dem anderen eine reinzureiben“. Was den Kleiderschrank betrifft, kommen sie sich nicht in die Quere, da einer lieber rot/orange mag und der andere grün/blau. Sich genau gleich anzuziehen, hätten sie noch nie gemocht, erzählt Yannick, selbst zu Kindergartenzeiten. „Wenn wir da morgens das gleiche an hatten, ist der andere noch mal hoch und hat sich umgezogen.“

Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Mutter bekommt zweimal Zwillinge

Was die Kleidung und Babyausstattung betrifft, eint alle Zwillingseltern dasselbe Schicksal: Die Geschwister können nicht gegenseitig ihre Sachen auftragen. Um sich selbst und anderen Zwillingseltern zu helfen, hat Silke Hassler daher 2010 den Zwillingsbasar im Degerlocher Waldheim gegründet, den es bis heute gibt. Zwei Babyschalen, zwei Laufräder, zwei Bobbycars – alles gibt es im Doppelpack. Sie erinnert sich daran, wie sie heimlich aufatmete, als sie einmal auf dem Basar einen Vater mit Drillingen entdeckte. Bei seiner Frau war der dritte Fleck auf dem Ultraschall offensichtlich keine Blase gewesen.

Zwillingsverein

Zwei dabei
Seit den 1980er Jahren gibt es in Leinfelden-Echterdingen den Verein „Zwillingsclub Stuttgart – Zwei dabei“. Zu den Mitgliedern zählen derzeit 29 Familien aus ganz Baden-Württemberg. Gemeinsam werden Ausflüge unternommen, Tipps zu Rabattaktionen für Zwillingseltern geteilt, Freundschaften geknüpft oder die Vorstandsmitglieder geben Hilfestellungen für den Alltag aus ihrer eigenen Erfahrung heraus oder vermitteln Ansprechpartner. „Die Panik, die viele überfällt, wenn sie erfahren, dass sie Zwillinge bekommen, ist gar nicht nötig“, sagt der Zwillingsvater Stefan Kriso vom Vorstand. Schließlich gebe es bei Kindern im Doppelpack auch viele Synergien wie etwa zeitgleiche Arztbesuche. „Geschwister mit einem Altersunterschied von ein, zwei Jahren sind anstrengender“, ist er sich sicher. Wenngleich die Babyzeit natürlich sehr herausfordernd sei, räumt er ein. „Aber es wird schnell entspannter, weil sie früh anfangen, sich selbst zu beschäftigen.“

Basar
Der nächste Zwillingskleiderbasar von „Zwei dabei“ findet am Sonntag, 23. Oktober, im Walter-Schweitzer-Kulturforum, Schimmelwiesenstraße 18, in Leinfelden-Echterdingen statt. Beginn ist um 14 Uhr. Das Pendant in Degerloch im Evangelischen Waldheim, Epplestraße 205, ist geplant für Samstag, 24. September. Einlass für Schwangere ist um 14.30 Uhr, für alle anderen ab 15 Uhr. Da bislang keine Nachfolger gefunden werden konnten, ist es voraussichtlich der letzte.

Statistik
Im Jahr 2020 brachten 106 483 baden-württembergische Frauen Kinder zur Welt, 1891 Mütter gebaren Zwillinge. Das entspricht einem Anteil von 1,8 Prozent. 24 Frauen bekamen Drillinge. Der Anteil der Zwillingsgeburten im Südwesten hat sich seit 1980 fast verdoppelt. Das liegt wohl auch am Alter der Mütter, da ältere Frauen überdurchschnittlich oft Zwillinge bekommen. Der Anteil von Frauen, die mit 35 Jahren und später Kinder bekommen, stieg von 17 Prozent im Jahr 2000 auf 27 Prozent in 2020. Hauptursache für den Anstieg an Mehrlingsgeburten ist den Angaben nach aber die moderne Reproduktionsmedizin.

Weitere Themen