Der 11. September ist Tag der Wohnungslosen. In Deutschland ­haben etwa 300 000 Menschen keine eigene Wohnung. Eine neue Studie bestätigt, was Sozialarbeiter seit längerem beobachten, auch in Esslingen: viele leiden an psychischen Erkrankungen.

Esslingen - Oft kommt die Presse hier nicht vorbei. Familienbesuche sieht man auch nicht. Die einzigen Menschen, die regelmäßig ins Berberdorf kommen, sind Sozialarbeiter und ein Mal in der Woche die Müllabfuhr. Wer hier lebt, hat meist niemanden mehr. „Wir sind das letzte Auffangnetz für diese Menschen“, sagt Regine Glück von der Evangelischen Gesellschaft (Eva). Knapp 40 Plätze für Wohnungslose gibt es in Esslingen, davon befinden sich 21 in der Hüttensiedlung.

 

Der Weg zum Berberdorf führt über die Vogelsangbrücke, einmal scharf rechts abbiegen und schon steht man vor den Toren der Siedlung, die es so gar nicht geben dürfte. Die Hüttensiedlung, die in den 80er Jahren als illegale Zeltstadt entstanden ist, gilt bis heute deutschlandweit als einzigartig. Sie wird einerseits von der Stadt geduldet und von der sozialen Einrichtung Eva unterstützt. „Ich wüsste nicht, wo es so etwas sonst noch gibt“, sagt Glück über das spendenfinanzierte Projekt.

Es soll so menschenwürdig wie möglich sein

Im Berberdorf wirkt es friedlich, fast idyllisch. Links zieht der Neckar ruhig seine Bahnen, rechts reihen sich braune Holzhütten aneinander. Vor manchen gedeihen Kräuter, Blumen und sogar Gemüse wird angebaut. Mit einem Biertisch und Bänken sieht es vor anderen Hütten nüchterner aus. An einem Tisch sitzt ein Quartett und trinkt Bier in der Septembersonne. Der Pegel ist sichtlich hoch. An dieser Stelle endet die Schrebergartenromantik auch schon.

Das Zusammenleben im Berberdorf birgt immer wieder Konflikte. „Hallo Frau Glück!“, ruft ihr ein Mann in schwarzem Shirt und schwarzer Hose entgegen, als er die Leiterin der Dienste für Menschen in Armut und Wohnungsnot im Landkreis Esslingen sieht.

Helmut Sommer (Name geändert) ist verärgert. Erneut hat einer der Bewohner seinen Hausmüll im Sanitärcontainer abgeladen. Jetzt stinkt es gewaltig an dem einzigen Ort, an dem man sich waschen und auf die Toilette gehen kann. Ohnehin hofft Glück, dass der Container bald durch neue ersetzt wird. „Der Antrag auf einen Zuschuss ist gestellt“, sagt sie. Die Anlage soll trotz der Situation so menschenwürdig wie möglich sein. Im Idealfall wären das vier Container und nicht einer. Auch für das Müllproblem weiß Sommer eine Lösung. „Vor jeder Hütte sollte ein Mülleimer stehen“, schlägt er Glück vor. Zwar gebe es einen großen Müllcontainer, der wöchentlich von der Müllabfuhr geleert werde, doch dieser reiche nicht aus.

Immer mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen

Mit seiner Lebensgefährtin lebt Sommer bereits seit einem Jahr und drei Monaten in dem Dorf. Eigentlich zu lange, denn die Notunterkunft ist nicht dafür gedacht, als Dauerunterbringung zu dienen. Doch den Eva-Mitarbeitern gelingt es nicht immer, die gestrandeten Seelen wieder in ein normales Wohnverhältnis und damit zurück in ein nach unseren Maßstäben normales Leben zu vermitteln.

Hinter vielen Bewohnern liegt eine langjährige Straßenkarriere mit allen Begleiterscheinungen. Doch die typischen Berber mit Rucksack treffe man immer seltener. „Wir bekommen zunehmend Menschen, die gar nicht lange obdachlos waren und die ein größeres Bündel an Problemen mitbringen“, sagt Glück. Das seien Kombinationen aus Suchterkrankungen und Überschuldung, doch vor allem Menschen mit psychischen Erkrankungen und sogar welche, die bereits pflegebedürftig seien. Dies stellt die Sozialarbeiter vor eine Herausforderung, denen sie nicht immer gewachsen sind. „Wir helfen aber, so gut es geht“, sagt Regine Glück. Aber manchmal ist der Pflegebedarf einfach zu hoch.

„Schon vor der Wohungslosigkeit psychisch krank

Interview - In Deutschland haben etwa 300 000 Menschen keine eigene Wohnung, 25 000 von ihnen leben auf der Straße. Eine neue Untersuchung der TU München, die Seewolf-Studie, zeigt, dass zwei Drittel der Wohnungslosen psychisch krank sind.
Frau Brönner, was ist das Besondere an Ihrer Studie zu Wohnungslosigkeit?
Es ist die größte und umfangreichste Untersuchung zu der Thematik im deutschen Raum. Wir haben 232 Menschen psychologisch, neuropsychologisch und körperlich untersucht. Bei einem Drittel durften wir die ärztlichen Unterlagen zur Krankengeschichte einsehen. So konnten wir die medizinische Geschichte der Personen nachverfolgen und mit aufnehmen.
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Wir haben festgestellt, dass 93 Prozent mindestens einmal im Leben eine psychiatrische Erkrankung haben oder hatten. Wir haben dann konkret untersucht, ob erst die psychische Erkrankung oder die Wohnungslosigkeit bestanden hat.
Welches Problem war zuerst da?
Zwei Drittel der Menschen waren schon vor der Wohnungslosigkeit in psychiatrischer Behandlung.
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Einerseits zeigt es uns, dass die psychiatrische Erkrankungsrate seit einer ähnlichen Untersuchung, der Fichter-Studie, aus den 90er Jahren gleich hoch geblieben ist. Andererseits zeigt es, dass gerade in diesem Bereich die Versorgung ausgebaut werden muss.
Wie kann das konkret aussehen?
Man muss die Kooperation zwischen psychiatrisch-medizinischer Versorgung und den Wohnungsloseneinrichtungen fördern und verbessern.
Sind die Mitarbeiter der Wohnungslosenhilfe nicht überfordert mit dieser Aufgabe?
Das ist genau das Problem. Sozialpädagogen sind in der Regel nicht auf psychiatrische Erkrankungen spezialisiert. Zusätzliches medizinisch-psychiatrisch ausgebildetes Personal wird dringend benötigt.