90 Nächte hat die Münchnerin Christine Neder in 90 verschiedenen Betten verbracht - und dabei das ein oder andere Abenteuer erlebt.  

Stuttgart - Wer weiß schon, wen oder was die nächste Nacht so bringt. Vielleicht eine spirituell veranlagte Gastgeberin, die aus Tarotkarten weissagt, oder ein Lesbenpärchen mit vier Hunden und einer Katze? Vielleicht ist es Andi, der in jedem Winkel seiner Wohnung Lichtinstallationen hat. Vielleicht auch Eddy, der Hochbetten sogar noch im Flur und in der Küche stehen hat und mehr als 200 Gäste im Jahr beherbergt?

 

Christine Neder kann so leicht nichts mehr verblüffen, seit sie 90 Nächte in 90verschiedenen Berliner Betten geschlafen hat. Als es die Münchnerin für ein Praktikum bei einem Kunst- und Modemagazin in die Hauptstadt verschlägt, will sie es genau wissen. Um Berlin und seine Bewohner kennenzulernen, verschreibt sie sich dem Couchsurfing unter verschärften Bedingungen: jede Nacht woanders. Nicht zuletzt spart das Zugastsein in der Community derer, die andere kostenlos in ihrer Wohnung aufnehmen und sich auf Reisen selbst beherbergen lassen, viel Geld. Und das ist nicht zu verachten, wenn man wie Christine Neder zur Generation Praktikum gehört und über weite Strecken wenig bis gar nichts verdient.

Zum Dank ein Gemüsecurry

Ricardo etwa zählt für die 25-Jährige zu den "ganz natürlichen und herzlichen" Berliner Gastgebern. Die Wegbeschreibung zu seiner Altbauwohnung im dritten Stock, ohne Namensschild an der Haustür, ist fast so kompliziert wie seine familiären Verhältnisse. Christine Neder muss sich die Geschichte des Sohnes eines chilenischen Vaters und einer brasilianischen Mutter mit der großen Schar von Geschwistern und Halbgeschwistern in Deutschland und Lateinamerika zweimal anhören, ehe sie begreift, "wer, wann, wo und wie viele". Fürs aufmerksame Zuhören belohnt Ricardo sie mit einem Gemüsecurry.

Bald hat die Münchnerin die Ruhe weg, wenn sie mit ihrem Rollkoffer eine neue Wohnung betritt. Aufgeregt dagegen sind manche Gastgeber. So stellt Ricardo versehentlich den Pfefferstreuer auf die heiße Herdplatte. Christine Neder bemerkt das Malheur und greift nach der Plastikdose, um zu retten, was zu retten ist. Zu spät, der angeschmolzene Boden bleibt an der Herdplatte kleben. Das Pfefferpulver verteilt sich in alle Himmelsrichtungen.

Husten verbindet

Dank Staubsauger und guter Durchlüftung lässt sich die Lage zwar einigermaßen bereinigen, nur müssen beide für den Rest des Abends husten. Das verbindet. Auch am Morgen benimmt sich Ricardo wie ein Gentleman. Steht extra zeitig auf, um seinem Gast eine Latte macchiato mit üppig viel Schaum zu bereiten. Er trägt eine mit Tesafilm reparierte Brille. Christine Neder will ihn so früh noch nicht darauf ansprechen, "aber ich frage mich, was er da wohl wieder angestellt hat".

Sex ist nicht

Als Couchsurferin gilt es zu spüren, wann man besser den Mund hält, wann man zur Unterhaltung beiträgt oder ohne zu mucken nur zuhört, wenn etwa ein von seiner Frau verlassener Ehemann über das "Miststück" herzieht. Abenteuer lauern zuhauf auf die zierliche Frau mit den langen, blonden Haaren. Florian lebt in einer ehemaligen Drogerie. Eine Art Paravent vor den Schaufenstern schirmt sein Privatleben ab. Ungewöhnlich sind seine Essgewohnheiten. Wer hat schon Appetit auf ein Brot mit Kräuterkäse und einer Schicht Nutella darüber?

An fehlenden Gelegenheiten zur Nahrungsbeschaffung kann es nicht liegen, ein riesiges Einkaufszentrum befindet sich nebenan. Nachdem die Shoppingmall eröffnet worden war, mussten viele kleine Geschäfte im Kiez aufgeben. Auch die Drogerie, in deren Räumen jetzt Florian wohnt. Die Nacht im neben dem Kanzleramt geparkten Campingbus eines Polen, der mit Hilfe seiner Couchsurfing-Gäste Deutsch lernen will, gilt es ebenso tapfer zu meistern wie die Nacht in einem Zimmer voller Diddelmäuse. Deren Besitzerin hätte Christine Neder nur zu gerne mit ihrem Sohn verkuppelt.

Jeden Abend eine SMS an die Familie

Sex ist nicht, das macht die Couchsurferin allen ihren Gastgebern sofort klar. Und jeden Abend schickt sie ihrer Familie oder ihren Freunden eine SMS mit der aktuellen Adresse, sicher ist sicher. Neder ist ausgezogen, sagt sie, um "das Gute im Menschen zu suchen". Nicht jeder scheint davon überzeugt zu sein. Außer Zuspruch und Ermutigung erhält sie auch Drohungen. Und ihr Vater warnt sie, alles ungefiltert in den Blog zu schreiben, in dem sie täglich ihre Couchsurfing-Erfahrungen mitteilt. Personalchefs liebten es zu googlen: "Alles, was du einmal reinstellst, kannst du nicht mehr löschen. Es wird dich ewig verfolgen."

Inzwischen ist Christine Neder in Berlin in ihre erste eigene Wohnung gezogen und hat auch ein Buch über ihre 90 Nächte in allen Teilen der Hauptstadt geschrieben. Sobald sich der Wirbel darum gelegt hat, will sie selbst Gäste aufnehmen und versuchen zu beherzigen, was sie anderen Gastgebern empfiehlt: sich keinesfalls zu sehr bemühen, sondern ganz normal, freundlich und aufgeschlossen sein.