Stadtarchiv widmete Tagung der Geschichte der Obdachlosigkeit. Anlass war die Übernahme des Vorlasses von Andreas Strunk, der die ambulante Hilfe in Stuttgart etablierte.

Obdachlosigkeit ist ein historisches Phänomen, das selbst reiche Industriegesellschaften nicht lösen konnten. Einer Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zufolge leben in Deutschland derzeit mindestens 40 000 Bürger auf der Straße. Mit fast 850 Wohnungslosen auf 100 000 Einwohner müssen in Stuttgart so viele Menschen ohne Dach über dem Kopf auskommen wie in fast keiner anderen Stadt. Eine Tagung im Stuttgarter Stadtarchiv hat sich am vergangenen Donnerstag dem Thema aus historischer Perspektive genähert.

 

Heftige Debatten über Obdachlosigkeit

Der Anlass der Tagung war die Übernahme des Vorlasses (Unterlagen, die zu Lebzeiten einer Person von ebendieser zur Verfügung gestellt werden) von Andreas Strunk, der in den 1970er Jahren zunächst zwei Obdachlosenheime in Stuttgart leitete. Ab 1977 bekleidete Strunk die neu geschaffene Stelle eines Sozialplaners bei der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart, bevor das Thema Obdachlosigkeit Anfang der 1980er Jahre zum Politikum wurde. „Dieser Bestand ist deshalb so interessant, weil sich in ihm die heftigen Debatten der 80er Jahre rund um das Thema Obdachlosigkeit spiegeln“, so Jürgen Lotterer, der den Vorlass verzeichnet hat.

Bevor Strunk die Leitung der Heime in der Nordbahnhofstraße 21 sowie der Bismarckstraße 39 übernahm, war es üblich, Männer und Frauen getrennt unterzubringen, was den Bedürfnissen obdachlos gewordener Paare in keiner Weise gerecht wurde. Zudem dienten oft Bunker als Männerwohnheime. Auf Betreiben Strunks hin wurde Stuttgart zu einem Vorreiter in der ambulanten Hilfe für Wohnungslose. Ein zentrales Anliegen des Sozialpädagogen war die Schaffung eigenen Wohnraums für Obdachlose, um Alternativen zur zentralen Unterbringung in Heimen zu schaffen.

Damals wurde Strunk vor allem von Vertretern der Gastronomie und des Einzelhandels heftig angegriffen, weil diese vermuteten, er würde durch seine Beratertätigkeiten Obdachlose nach Stuttgart locken. Schließlich gab Strunks Arbeitgeber dem öffentlichen Druck nach und entließ ihn kurzerhand. „Das war keine einfache Zeit für mich. Dass gerade die Kirche vor den Lobbyisten einknickte, war schon derb“, erinnerte sich Strunk.

Thema in der Öffentlichkeit wenig präsent

Dass der Umgang mit Wohnungslosen auch heute noch von Ressentiments geprägt ist, hat sich auch in der Coronakrise wieder gezeigt. Obdachlose waren die „Hauptleidtragenden der Pandemie“, wie Armutsforscher Christoph Butterwegge unlängst feststellte. So führten Kontaktverbote zum Totalausfall der Einnahmen von Pfandsammlern und Bettlern. Dennoch spielten sie in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle, bei staatlichen Hilfsprogrammen fielen sie durchs Raster. „Mit der Tagung wollten wir das Thema in die Öffentlichkeit bringen“, sagte Archiv-Sprecher Günter Riederer.

In der Neuzeit gab es mehr Verständnis

In einem ausführlichen Vortrag über Obdachlosigkeit in der frühen Neuzeit ordnete Martin Dinges, der als außerplanmäßiger Professor an der Universität Mannheim lehrt, die Ängste gegenüber Obdachlosen in die historische Langzeitperspektive ein. Das Wort Obdachlosigkeit selbst stamme aus der Zeit der Industrialisierung, auch seien Menschen ohne feste Bleibe keine homogene Gruppe gewesen: „In den Agrargesellschaften der Neuzeit war Betteln weitverbreitet. Es gab viele entlassene Söldner und Tagelöhner. Auch Studenten bettelten“, erklärte Dinges. Die Gründe für Obdachlosigkeit seien ähnlich wie heute gewesen: Schulden, der Tod von Angehörigen, Krankheit. Da jedoch ungefähr jeder Zehnte betroffen gewesen sei, sei das Verständnis größer gewesen als heute. Nichtsdestotrotz seien Obdachlose auch damals als Sicherheitsrisiko wahrgenommen worden. Dass ein Staat auch auf die Loyalität armer Bevölkerungsschichten angewiesen ist, sei erst im Laufe des 19. Jahrhunderts begriffen worden, führte Beate Althammer von der Universität Trier aus: „Die Sozialreformen Bismarcks waren ein Wendepunkt in der Frage der Obdachlosigkeit.“