Für Hendrik Streeck fällt die Corona-Inzidenz derzeit vor allem aufgrund der wärmeren Temperaturen, über den Berg sei man noch nicht. Eine Intensivpflegerin berichtet von ihrem belastenden Alltag in der Universitätsklinik Köln.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Berlin - Hendrik Streeck ist Virologe und kein Wahrsager – und deshalb hat er am Mittwoch ausweichend geantwortet, als die Talkmasterin Sandra Maischberger ihn fragte, ob wir nun in die Endphase der Pandemie eingetreten seien. Das könne niemand sagen, meinte Streeck, um dann aber doch sehr konkret zu werden.

 

Zum einen habe der sinkende Inzidenzwert derzeit mehrere Ursachen. Sehr hoch bewertete der Virologe den Effekt der Saisonalität: Jetzt endlich entfalte der Frühling seine Wirkung; wegen des sehr kalten Aprils sei der Effekt der wärmeren Jahreszeit wohl später als erwartet zu spüren gewesen. Daneben gebe es auch bereits einen Impfeffekt. Und auch der Lockdown trage sicherlich zu der positiven Entwicklung bei. Wobei er in Hinblick auf die derzeitige soziale Diskussion hinzufügte: In ärmeren Vierteln beobachte er ein „Lockdown-Paradoxon“; gerade weil die Menschen nicht raus könnten und eng beieinander lebten, komme es eher zu mehr Infektionen.

Zum anderen machte Streeck wenig Hoffnung, dass die Pandemie endgültig besiegt sei. Man werde im Sommer sicher wieder erfreulich niedrige Infektionsraten haben: „Aber es stellt sich schon die Frage, wie stark eine vierte Welle im Herbst ausfallen wird.“

Der jüngste Patient mit schwerem Verlauf ist 22 Jahre alt

Die Intensivpflegerin Anette Segtrop berichtete aus ihrem Alltag an der Universitätsklinik Köln – sie malte ein düsteres Bild. Zu ihnen kämen die ganz schweren Fälle, die in anderen Kliniken nicht mehr versorgt werden könnten und an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden müssten. Die dafür zur Verfügung stehenden zehn Betten seien zuletzt im Laufe eines Wochenendes belegt worden – es stehe kein einziges Gerät mehr zur Verfügung. Oft würden bei Patienten alle Organe angegriffen, und es gebe dann kein Mittel mehr, um das aufzufangen: „Das ganze System kippt und es geht zu Ende.“

Hören Sie hier den erschütternden Bericht des Intensivpflegers Ricardo Lange.

Der derzeit jüngste Patient bei ihnen mit einem so schweren Verlauf sei gerade 22 Jahre alt, erzählte Segtrop weiter: „Er ist an sämtliche Geräte angeschlossen, aber wir wissen immer noch nicht, ob er es schafft.“ Auch sie befürchtet, dass es im Herbst eine vierte Welle geben könnte und dass die Patienten dann noch jünger sind. „In 40 Jahren in der Pflege habe ich nichts Vergleichbares erlebt“, sagte Anette Segtrop. Sie appelliert an die Politik, endlich mehr für die Pflegekräfte zu tun, die unter der Belastung oft zusammenbrächen. Auch Hendrik Streeck sprach von einem „eklatanten Pflegenotstand“, bei dem niemand gegensteuere. Bereits 26 000 Pflegekräfte hätten unter dem Druck ihren Beruf aufgegeben.

Virologe: Corona ist für Ältere ein enorm tödliches Virus

In der Diskussionsrunde zu Beginn der Talkshow sprachen der Kabarettist Mathias Richling, die taz-Kolumnistin und Bloggerin Anna Dushime und der Spiegel-Redakteur Markus Feldkirchen allgemein über die Richtigkeit der deutschen Corona-Politik. Einigkeit herrschte in der Bewertung der Ausgangssperre: Sie komme zu spät – viel zu lange seien die Maßnahmen halbherzig gewesen. Kritik erntete allerdings Mathias Richling, der für eine stärkere Öffnung plädierte: Man sehe immer nur die Infizierten und die Opfer, aber die Existenznöte der Künstler, Unternehmer und Gastronomen beachte niemand wirklich. Dabei sei doch erwiesen, dass der Großteil der Ansteckungen im privaten Bereich erfolge.

Dem widersprach Dushime: Wenn man jetzt zu früh öffne, mache man womöglich alle Erfolge zunichte. Hendrik Streeck wurde später noch deutlicher: Wenn heute Menschen Covid 19 immer noch mit einer Grippe verglichen, drehe sich ihm der Magen um: „Vor allem für ältere Menschen ist Covid ein enorm tödliches Virus.“

Beim Thema „Freiheiten für Geimpfte“ schlagen Wogen hoch

Auch zum Thema „Freiheiten für Geimpfte“ gingen die Meinungen stark auseinander. Markus Feldkirchen, der sich als noch nicht Geimpfter outete, sagte, er neide es niemandem, der vor ihm seine Freiheitsrechte zurückbekomme; es sei doch gut, wenn nach der Öffnung der Geschäfte auch Kunden da seien. Anna Dushime findet die Verlockung der neuen Freiheiten sogar gut: So könne man Menschen, die dem Impfen bisher gleichgültig gegenüber gestanden hätten, vielleicht überzeugen.

Mathias Richling befürchtet dagegen eine Spaltung der Gesellschaft, wenn diejenigen Menschen, die durch das frühe Impfen schon privilegiert seien, nun erneut mehr Rechte zurückerhielten als Nicht-Geimpfte. Hendrik Streeck neigte eher der Meinung Richlings zu: „Jedem, der noch keine Impfung erhalten kann, muss ein Alternativangebot gemacht werden – sonst ist es nicht gerecht.“ Dies könne etwa dadurch erfolgen, dass auch ein negativer Test gilt, um gewisse Freiheiten wieder wahrnehmen zu können.

Sahra Wagenknecht wettert gegen die „Lifestyle-Linken“

Am Ende der Sendung stellte Sahra Wagenknecht von der Linken im Gespräch mit Sandra Maischberger ihr Buch „Die Selbstgerechten“ vor. Die Hauptthese des Buches lautet, dass die Linke sich in der Verteidigung „skurriler Minderheiten“ verliere und dabei die wesentlichen Aspekte ihrer Politik aus den Augen verliere. Als Beispiel nannte sie die Abschaffung des Begriffes „Zigeunersauce“ bei Knorr nach massiven Protesten. Darüber sei wochenlang diskutiert worden, während es niemanden interessiert habe, dass Knorr gleichzeitig sehr schlechte Tarifverträge für seine Mitarbeiter durchgesetzt habe. Solche „abgehobenen Debatten“ seien schädlich.

Zudem würden „Lifestyle-Linke“, die finanziell gut situiert seien, ärmeren Menschen vorschreiben wollen, wie diese zu leben hätten, argumentierte Wagenknecht weiter – diese sollten Bio-Lebensmittel kaufen, ein Elektroauto fahren und eine ökologische Heizung in den Keller stellen. Das finde sie überheblich, so die Politikerin.

Ist Rassismus im privaten Raum hinnehmbar?

Dass sich Wagenknecht auf einem schmalen Grat bewegt, ist ihr bewusst. So wusste sie nicht genau, ob sie die Äußerung des ehemaligen Torwarts Jens Lehmann, Dennis Aogo sei bei Sky der „Quotenschwarze“, verdammen oder als verzeihbaren Fauxpas werten sollte. Im öffentlichen Raum sei diese Äußerung nicht hinnehmbar, meinte Wagenknecht schließlich; aber Lehmann habe den Begriff im privaten Raum verwendet.

Vor allem Anna Dushime erhob aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit vehementen Einspruch. Es sei grundfalsch, ein Thema gegen das andere ausspielen zu wollen, meinte sie: Natürlich müsse gegen schlechte Tarifverträge protestiert werden, aber das bedeute ja nicht, dass man über rassistische Äußerungen einfach hinwegsehen könne.