Gemeinwesenarbeit ist in Stuttgart noch ein Stiefkind. Sie stärkt den Zusammenhalt der Menschen in ihren Quartieren. In S-Süd gibt es zwar das Projekt Kugel, doch hangelt es sich von einer Zweijahresfinanzierung zur nächsten.
S-Süd - Anthea Engelhardt staunt immer wieder wie viele engagierte Gruppen und Initiativen es im Stuttgarter Süden gibt: „Das ist schon auffallend“, meint die 30-Jährige, die seit März dieses Jahres das gemeinwesenorientierte Stadtteilprojekt Kugel (Kulturen gemeinsam leben in der Trägerschaft des Internationalen Bundes) leitet. Mit nur einer Stelle leistet Kugel im Stuttgarter Süden seit 2016 wichtige Arbeit. Anthea Engelhardts Job ist es, Menschen zusammenzubringen. Im allgemeinen wurstelt jede engagierte Gruppe für sich. „Da wird viel Arbeit doppelt gemacht“, sagt Engelhardt. Wer aber weiß, was die anderen machen, kann Know-how austauschen oder Werkzeug, kann Aktionen aufeinander abstimmen oder sich mit vereinter Kraft für eine Sache einsetzen. „Und ich fungiere dabei als Vermittlerin.“ Und so hat Engelhardt beim MüZe und seinem Labor Süd, beim Südfeuer, bei der mobilen Essensausgabe Supp-optimal, der Wanderbaumallee und etlichen anderen Aktivitäten im Süden ihre helfenden Hände mit im Spiel.
Entfremdung im Lockdown
Es geht dabei nicht ums Praktische, sondern auch darum, möglichst viele Menschen ins soziale Miteinander im Quartier einzubinden. In Anbetracht zunehmender sozialer Ungleichheit und politischer Spannungen in den Großstädten, die sich durch die Pandemie noch verschärft haben, gewinnen solche Formen der Gemeinwesenarbeit weiter an Bedeutung. Engelhardt, die in Potsdam Kulturarbeit studierte, hat einige Jahre in Berlin im Bereich Gemeinwesen gearbeitet. Dort und in einigen anderen Städten ist Gemeinwesenarbeit fester Bestandteil und institutionalisiert.
Kugel indessen hangelt sich als bloßes Projekt von Finanzierung zu Finanzierung. Aktuell hat die Landeshauptstadt die Kosten für zwei Jahre übernommen. Die Laufzeit endet im Dezember 2021. Wie schon die Kugel-Leitung vor ihr dringen Anthea Engelhardt und die Grünen-Fraktion im Bezirksbeirat Süd darauf, Kugel in eine dauerhafte Einrichtung umzuwandeln. „Diese wertvolle Quartiersarbeit muss verstetigt und weiterentwickelt werden. Gerade jetzt durch die coronabedingte Krise wurde deutlich, wie wichtig der soziale Nahraum für Menschen ist – da hilft auch die ganze Digitalisierung nicht“, fordern die Grünen des Bezirksbeirats Süd in ihrem Antrag. Engelhardt hat sogar den Verdacht, dass der Rückzug der Menschen in die sozialen Medien während der Lockdowns bei vielen zu Entfremdung führte: „Ich habe das Gefühl, diese Bubbles haben sich verstärkt, weil es zu wenig Gelegenheiten gab, bei denen man mal herausgerissen wurde und sich auf anderes einlassen musste. Ich habe mich im Lockdown schon gefragt, ob es möglich ist, soziales Miteinander zu verlernen.“
Die soziale Schere geht auseinander
Sorge bereitet Engelhardt auch die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, die sie insbesondere in den Tallagen des diversen und topografisch zerklüfteten Bezirks beobachtet. Steigende Mieten verdrängten wirtschaftlich schwächere Bewohner. Besonders Heslach befinde sich in einem tief greifenden Wandel. Die Zahl der Menschen in prekärer Lebenslage habe in der Pandemie zugenommen. „Viele lebten vorher schon in schwierigen Situationen, hatten etwa einen Job in der Gastronomie, der jetzt wegfiel. Den meisten Menschen sieht man ja gar nicht an, dass sie arm sind“, sagt Engelhardt. Aber der Andrang bei den mobilen Essensausgaben, die die Bürgerstiftung fördert, sei enorm gewesen und ebenso die Nachfrage beim Foodsharing und nach Einkaufsgutscheinen. Auch die Schlangen bei der Schwäbischen Tafel in der Hauptstätter Straße sind nach wie vor schier endlos.
„Daneben existiert soziale Armut, die enorm zugenommen hat“, sagt Engelhardt. Das beträfe insbesondere die „stillen Gruppen“ wie ältere Menschen oder auch Geflüchtete. Generell sei zu beobachten, dass Menschen, denen es finanziell schlecht geht, weniger sichtbar seien. Sie zeigten sich selten bei Festen, in den engagierten Gruppen und Initiativen des Quartiers oder bei Beteiligungsprozessen. Hier Türen zu öffnen, Kontakte zu knüpfen und zur Teilhabe zu motivieren, ist Teil von Engelhardts Arbeit.
Büro als Anker im Quartier
Ihre Hoffnung ist, dass die Gemeinwesenarbeit fest im Bezirk verankert wird. Gut wäre ein Stadtteilbüro mit einem zusätzlichen Raum, indem sich Gruppen auch kurzfristig zu Besprechungen treffen können. Alle Infos zu zivilgesellschaftlichen Aktivitäten mitsamt Kontakten würden hier zusammenlaufen. Wer etwas sucht – Unterstützung, ein Ehrenamt, einen Abnehmer für ausrangierte Rechner, einen Nachmieter, eine Begleitung, Mitstreiter für die gute Sache oder sonst etwas – kommt erst mal ins Stadtteilbüro und schaut, bei wem er sich unterhaken kann. „In Stuttgarts Vierteln leben Menschen mit verschiedensten Hintergründen. Doch leben sie auch zusammen? Bloße Nachbarschaft ist noch kein kultureller oder gar menschlicher Austausch. Das Potenzial der Vielfalt wird nur dort frei, wo ein Dialog beginnt und gemeinsamer Austausch stattfindet“, heißt es in der Projektbeschreibung von Kugel.