Von der fristlosen Entlassung des Musikdirektors bis zum Diskurs über Diversität: Die Saison des Stuttgarter Balletts spielte nicht nur auf der Bühne.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Nachdem die Jubiläumsspielzeit zum 60. Geburtstag seiner Kompanie mehr von Corona als von Feierlaune geprägt war, wollte sich das Publikum des Stuttgarter Balletts nicht noch eine Saison nehmen lassen. Und so durften sich Intendant Tamas Detrich und sein Team in der nun beendeten Spielzeit über fast immer ausverkaufte Vorstellungen freuen, während anderswo der große Ansturm ausblieb.

 

Dass selbst zuletzt trotz hohen Krankenstands keine Vorstellungen ausfallen mussten, zeigt das große Engagement aller. Für die Tänzerinnen und Tänzer ist das schön: Ihre Karrieren sind kurz, jeder vertane Chance schmerzt doppelt.

Warum ein Schatten auf der Saison lag

Also alles wie immer? Mit vier Uraufführungen, der Rückkehr großer Cranko-Ballette und einem breiten Repertoire von Forsythe bis „Dornröschen“ ließ sich das vom Theatersessel aus fraglos so wahrnehmen. Hinter den Kulissen war jedoch viel Unruhe; ein Streit mit dem Dirigenten Mikhail Agrest sorgte bei den Proben für die Wiederaufnahme von „Onegin“ für so viel Turbulenzen, dass der Ballettintendant zum Saisonstart nicht wegen der Kunst im Fokus stand. Die fristlose Entlassung Agrests, gegen die der Musikdirektor erfolgreich klagte, warf ihren Schatten auf die ganze Saison und wartete auch am Ende auf eine versöhnliche Lösung.

„Onegin“ in neuer Ausstattung

Auf der Bühne wurde „Onegin“ dennoch zum heftig applaudierten Höhepunkt. Das lag zum einen an der Freude des Publikums über die Rückkehr von großen Erzählstoffen nach der pandemiebedingten Pause. Zum anderen präsentierte sich Crankos Klassiker mit neuer Wucht dank der von Jürgen Rose frisch herausgeputzten und neu ausgeleuchteten Ausstattung. Und mit Agnes Su, nach ihrem Rollendebüt als Tatjana noch auf der Bühne zur Ersten Solistin befördert, kristallisiert sich eine weitere starke dramatische Ballerina heraus.

Ein Abend, der einem einzigen Choreografen gewidmet ist, hat in Stuttgart Seltenheitswert. Johan Inger auf diesem Weg im Februar als wichtigen Schrittmacher herauszustellen, entspricht dem Renommee des Schweden. Das Repertoire-Stück „Out of Breath“, die Erstaufführung der locker skizzierten, lässig getanzten Gruppen von „Bliss“ und eine Uraufführung gab es. Schade, dass Inger mit seiner kostümüberfrachteten, neuen „Dornröschen“-Parodie „Aurora’s Nap“ das Bild vom coolen Schrittmacher trübte, das Stuttgart bis dahin von ihm hatte.

Nachhaltiger beeindruckte der choreografische Nachwuchs, mit dessen „Creations VII–IX“ der Uraufführungsabend Ende Mai bestückt war und mit dem die Saison auch endete. Vor allem Vittoria Girelli gelang mit „Self-deceit“, einer getanzten Reflexion über Täuschung und Verdrängung, ein stimmiges Stück auf der Höhe der Zeit. Mit virtuosen Momenten blickte Roman Novitzky in „Reflection/s“ auf ein Tänzerleben zurück. Sehr nachdenklich zeigten sich auch Louis Stiens und Shaked Heller, die sich mit „Ifima“ vom Stuttgarter Ballett verabschiedeten.

Auch andere scheidende Tänzerinnen und Tänzer wie Starballerina Alicia Amatriain, die ihre aktive Karriere beendete, stimmten in diesen kritischen Chor ein, der das System Ballett in Sachen Diversität und hierarchischen Strukturen hinterfragt. Der Diskurs, was Ballett heute leisten muss, wird sicherlich die nächste Spielzeit begleiten.

Choreografischer Nachwuchs zeigt sich nachdenklich