Die zweite Colours-Ausgabe steht in den Startlöchern: Gauthier Dance zeigt bei „Mega Israel“, dem Eröffnungsabend des zweieinhalbwöchigen Stuttgarter Tanzmarathons (6. bis 23. Juli), dreimal Tanz von israelischen Choreografen. Deren Arbeiten sind weltweit gefragt. Was ist ihr Geheimnis?

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Sechzehn Tänzer in schwarzen Anzügen und weißen Hemden sitzen im weiten Halbkreis auf Stühlen. Dunkle Percussionschläge befeuern ihren synchronen Bewegungssturm, dazwischen brüllen sie wie Krieger die Verse des Kinderlieds „Echad Mi Judea“ aus der Pessach-Erzählung in die Welt hinaus. Irgendwann werfen sie ihre Jacken und Schuhe in die Mitte, zerren ihre Hosen herunter, bis sie in grauen Leibchen dasitzen.

 

Eine Befreiung. Von Traditionen? Der Geschichte? Religiösem Fanatismus? In diesem Moment vielleicht vor allem von den Textilien, die auf der Haut der Tänzer kleben. Denn es ist brütend heiß an diesem frühen Nachmittag im Probenstudio bei der Spielstätte Nord, wo die Gauthier-Dance-Truppe einen Durchlauf des Stücks „Minus 16“ von Ohad Naharin probt.

„Minus 16“ ist eine von drei Choreografien des Eröffnungsabends „Mega Israel“, mit dem am 6. Juli die zweite Ausgabe des Colours International Dance Festivals im Theaterhaus beginnt. Die 37-minütige Collage verbindet Auszüge von mehreren Naharin-Choreografien: Tanz mal chaotisch und unzivilisiert wie von einem Urtier, mal kristallin und erhaben – immer kraftvoll, intensiv, mitreißend.

Tanz aus Israel ist ein Exportschlager

Eric Gauthier und Meinrad Huber, die künstlerischen Leiter des Festivals, knüpfen damit an die erste Festivalausgabe vor zwei Jahren an: 2015 eröffnete die Theaterhaus-Kompanie in der Turnhalle jeden Festivalabend mit Naharins „Kamuyot“, einem ungemein frischen, die Lust am Körper feiernden Stück. Colours entfachte mit seiner Vielfarbigkeit der Tanzsprachen auf Anhieb Begeisterungsstürme beim Publikum, stieß auch überregional in Fachkreisen durchweg auf positive Resonanz.

Neben dem 1999 uraufgeführten „Minus 16“ tanzt Gauthier Dance „Killer Pig“, ein Erfolgsstück von Sharon Eyal und Gai Behar, sowie Hofesh Shechters „Uprising“. Ohad Naharin ist eine Art Großmeister des zeitgenössischen israelischen Tanzes, seit 1990 leitet er die hoch angesehene Batsheva Dance Company in Tel Aviv und arbeitet als Choreograf für die besten Kompanien der Welt. Shechter und Eyal/Behar waren Tänzer bei ihm – heute sind sie als Choreografen international erfolgreich, haben jeweils ihre eigene Truppe.

Choreografien aus Israel sind weltweit gefragt – ein echter Exportschlager. „Israelischer Tanz ist immer eine große Show, wechselt von einem Extrem ins andere“, sagt der Kompaniechef Eric Gauthier und verspricht den Zuschauern mit „Mega Israel“ ein Erlebnis, das in Erinnerung bleiben werde: „Diese israelische Verrücktheit ist etwas, was man nicht jeden Tag sieht.“

Auch Shahar Biniamini ist ein Naharin-Schüler, sieben Jahre lang tanzte er bei Batsheva, begann dort zu choreografieren. Der schmalgliedrige junge Mann sitzt, die langen Haare zu einem Knoten hochgesteckt, am Rand des Saals, flüstert der Ballettmeisterin während des Durchlaufs hin und wieder ein paar Worte zu. Hinterher wird er die Korrekturen mit den Tänzern der Reihe nach abarbeiten – er ist von Tel Aviv nach Stuttgart gekommen, um „Minus 16“ mit der Company einzustudieren. Später am Nachmittag wird er auch noch an seinem eigenen Stück arbeiten, das Teil des Uraufführungsabends „Meet The Talents“ von Jungchoreografen sein wird. Inzwischen arbeitet Biniamini als Gastchoreograf für Kompanien in aller Welt, von Saarbrücken bis Singapur, und leitet Workshops.

Explosiv, zart, präzise, zerbrechlich, brutal

Aber warum ist der israelische Tanz so gefragt? Was ist sein Geheimnis? „Unser Tanz verfügt über eine besondere Tiefe, die die Menschen anspricht“, erklärt der 29-Jährige und spricht von einer außergewöhnlichen „Sublimierung von Gefühlen in Bewegung“. „Israelischer Tanz ist auf sehr klare Art und Weise explosiv, zart, präzise, zerbrechlich, brutal. Er hat etwas sehr Starkes an sich, das man einfach nicht ignorieren kann“. Einen großen Anteil an der Power des israelischen Tanzes hat die von Ohad Naharin entwickelte Bewegungssprache Gaga. Diese Trainingsmethode setzt nicht auf festgelegte Schritte und Positionen. Stattdessen lenken die Tänzer durch bestimmte Begriffe ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Körperteile, Handlungen, Gefühle, Eigenschaften und rufen so Bewegung hervor. Bei Gaga, erklärt Biniamini, gehe es darum, in den Status zurückzukehren, in dem Kleinkinder mittels Bewegung die Welt erforschen. Die Gaga-Sprache, die ehemalige Batsheva-Tänzer rund um den Erdball tragen und stetig weiterentwickeln, ist auch die Grundlage von Biniaminis Choreografien: „Gaga ist ein Teil von mir“, sagt er, „es ist einfach da.“

Dass israelischer Tanz ein gefragtes Exportgut ist, habe aber auch mit den Strukturen in Israel zu tun, wie der Gaga-Lehrer sagt. Weil staatliche Subventionen rar seien und es nur wenige große Kompanien gebe, seien Choreografen wie er angewiesen auf internationale Partner-Kompanien, die ihre Arbeiten koproduzieren, sowie auf Einladungen zu Festivals, erklärt der Israeli.

„Empty 3“, Biniaminis Stück für Colours, sei eine Weiterentwicklung einer Arbeit für die Ate9 Dance Company in Los Angeles und Auftakt einer dreiteiligen Serie, wobei er am Ende beginne – wie bei „Star Wars“, sagt er. Auch inhaltlich gibt es eine Verknüpfung zur Weltraum-Saga: Das All als leerer Raum, nur von Sternen durchsetzt, mysteriös, unbegreiflich, faszinierend – diese Leere will Biniamini mit seiner Trilogie ausloten.