Zwei ungleiche Menschen wohnen Wand an Wand. Wie sie und er im Tanz alles Trennende überwinden, erzählt das Flamenco-Stück „Vecinos“ – Nachbarn. Zum Auftakt des Flamenco-Festivals zeigte das Gastspiel aus Madrid im Theaterhaus auch, wie lebendig der Flamenco in seiner Heimat ist.

Stuttgart - Sie ist ein Paradiesvogel. Hellblaue Lampe auf dem Kopf, gelbe Gießkanne zu den Füßen, mit der sie liebevoll die bunten Blumen auf ihrem Körper gießt. Er indes kommt schlicht daher. Einfaches Hemd, Hose. So stapelt er Umzugskarton um Umzugskarton, auf- und nebeneinander, darin ein Strauß weißer Ballons. Gemeinsam haben sie nur eines: die Etage eines Wohnhauses; die Blumenfrau und der Luftballonmann leben nebeneinander, getrennt durch eine Mauer. „Vecinos“, Nachbarn, heißt das Stück, das die Madrider Tänzer und Choreografen Carlos Chamorro und Mariana Collada entwickelten. Unter dem Namen Compañía Bojiganza: Die gebürtige Darmstädterin und der Ex-Solist des spanischen Nationalballetts, nun künstlerischer Leiter von Malucos Danza, gründeten die Kompanie vergangenes Jahr, um eigene Projekte zu verwirklichen.

 

Und ihr erstes war das Zweipersonen-Stück „Vecinos“. Nun wurde es im Theaterhaus gezeigt – zum Auftakt des 7. Stuttgarter Flamenco Festivals, das diese Woche Tanz-, und Gitarrenkursen, Abschluss-Performance und Fiesta im Produktionszentrum Tanz und Performance (PZ) bietet.

Organisatorin und Choreografin Catarina Mora erklärte, als sie das Festival mit dem spanischen Generalkonsul Carlos Medina Drescher und der PZ-Geschäftsführerin Isabell Ohst eröffnete, warum sie mit „Vecinos“ zum ersten Mal keine eigene, sondern eine übernommene Produktion präsentiere. „Ich wollte zeigen, wie der Flamenco in Madrid auch zeitgenössisch inszeniert wird.“

Wer reichlich Zapateados erwartete, musste sich umstellen

So mancher, der an diesem Abend eine Tour de Force an Zapateados, der Flamenco-Fußarbeit, erwartete, musste sich also umstellen. Statt dem programmatischen Ablauf der „Palos“ – von den Flamenco-Formen wie Alegría oder Bulería gibt es an die 100 Stück – gab es Flamenco als Tanztheater. Was die Anhänger mit enormem Applaus goutierten. Und das zu Recht: Wie sich die Nachbarn Chamorro und Collada über 80 Minuten einander nähern, erst vorsichtig, dann tat- und tanzkräftiger, das war Sehnsucht und Leidenschaft pur.

Die baute sich ganz zart auf. Abwechselnd horchten beide an der Wand zwischen den Wohnungen – dargestellt durch eine Projektion. Was passiert da in nächster Nähe, und doch so weit entfernt? Warum lebt man so isoliert, sich nicht den Leben der anderen bewusst werdend? Erklang da nicht eben ein Lieblingslied? Und schließlich: Wie wäre es, wenn man einfach klingeln würde und sie oder ihn zum Tanzen auffordern?

Derlei Gedanken legten Chamorro und Collada nicht nur ihrem Konzept zugrunde, sie wussten sie auch umzusetzen. Mit kleinen Gesten und tiefen Blicken, großen Drehungen und rasanten Hebungen, melancholischen Soli und witzigen Zusammentreffen im imaginären Hausflur. Als sie ihm ständig die Tasse hinhält, um immer wieder Salz auszuleihen, kommt er mit einem ganzen Sack, den er über sie auf die Bühne leert. Ein slapstickartiger Moment, der kitschig hätte enden können, genauso wie Texteinspielungen oder ein Video, das in Kinderzeichnungsmanier von einem schmachtenden Pärchen erzählte – zu Yann Tiersens Musik aus dem Film über Amelies Welt.

Das geschah aber nicht. Auf dem Salz als Basis des Tanzes folgten gefühl- wie humorvolle Duette rund um das gemeinsame Abendessen mit viel Wein und blinkenden Lichterketten – immer das Fragezeichen in der Luft, wie es weitergeht. Freilich zeigten dabei Collada und Chamorro – beide mit Preisen ausgezeichnete Tänzer – auch rasante Zapateados. Aber sie mixten sie mit anderen Musikstilen und Tanzformen wie Tango, Jazz oder Contemporary. Bei Collada wird etwa aus dem Tanz mit dem Manton, dem großen Fransentuch, ein Stück mit einem Blumenteppich, den sie sinnlich um ihren Körper wickelt. Chamorro negiert nicht den männlich hartkantigen Part des Flamencos, verwandelt ihn aber immer wieder in fließende Bewegungen. Fazit: Besser hätte der Auftakt zum Flamenco-Festival nicht sein können. Zeigte er doch, wie aktuell ein immaterielles Weltkulturerbe sein kann.