Mit der Doppelfolge „In der Familie“ feiert der „Tatort“ seinen 50. Geburtstag. Das Ermittlerteam aus München trifft auf das Team aus Dortmund. Das wird kein launiger Feierspaß, sondern ein außergewöhnlich beklemmender Krimi.

Dortmund - Der gelegentliche Mord, der in den besten Kreisen und Familien vorkommt und Polizisten im Fernsehen vor die große Frage stellt „Wer könnte wohl ein Motiv haben?“ – diese olle Kamelle ist beim Jubiläum der „Tatort“-Reihe schon in der Tonne entsorgt, bevor es los geht. Gleich zu Beginn von „In der Familie“ – einem Zweiteiler, dessen Fortsetzung am Sonntag in einer Woche läuft – wird bei einem Streit im Münchner Kleindealermilieu das Verbrechen denen zurückgegeben, die täglich ihr Brot damit verdienen.

 

Die Kommissare Batic (Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo Wachtveitl) wissen auch ziemlich schnell, wer da warum ein Messer benutzt hat. Sie haben nun zwei von drei üblichen Problemen: Können sie es beweisen? Können sie den abgetauchten Täter aufspüren? Das dritte Problem ist ein viel heikleres, es wird sie bald auch noch einholen.

Ende einer Lebenslüge

Wie Batic und Leitmayr ermitteln, wird gar nicht erst gezeigt. Der von Bernd Lange geschriebene, von Dominik Graf inszenierte Auftakt des Jubiläums verlagert seine Aufmerksamkeit nach Dortmund. Der Messerstecher aus München, Pippo Mauro (Emiliano De Martino), kommt hier hinten in einem Kleinlaster bei einem italienischen Restaurant an. Der Laden ist ein sicherer Umschlagplatz für Drogentransporte, und die Inhaberfamilie Modica klammert sich noch an den Gedanken, sie seien eigentlich ehrliche Leute. Sie schauten ja nur ein bisschen weg, wenn jene Leute, die ihnen den Kredit zum Eröffnen des Restaurants gaben, mal den Hof und Platz in den Lagerräumen brauchen. Man hat gemeinsame Wurzeln in Kalabrien, man lebt in der Fremde, man muss einander ja ein wenig helfen.

Es wird noch Action geben. Und weil sie glaubhafte Figuren trifft, mit denen wir beim Zuschauen vertraut wurden, wird sie beklemmender wirken als irgendwelches Stuntgedröhne um Pappkameraden herum. Aber zunächst einmal geht es um ein Milieu, um eine Atmosphäre, um die Physik eines abschüssigen Geländes. Mit Pippos Ankunft, mit dem Zwang, den unberechenbaren Karrierekriminellen aus der kalabrischen Mafia aufzunehmen, ist die Lebenslüge von Luca Modica (Beniamina Brogi) und seiner deutschen Frau Juliane (Antje Traue) nicht mehr zu halten.

Suche nach dem Spitzel

Jeden Tag werden sie tiefer hineingezogen in Pippos Pläne, Launen und Weltsicht, auch ihre siebzehnjährige Tochter Sofia (Emma Preisendanz) wird davon erfasst. Der Dortmunder Kriminalhauptkommissar Faber (Jörg Hartmann) schaut dem allem zu. Er ist sich sicher, auf der richtigen Spur zu sein. Aber sein Bauchgefühl ist schon in seiner Dienststelle und erst recht vor Gericht nichts wert. Er braucht einen Weg ins Innere der Bande, braucht Informationen, um überhaupt Maßnahmen einleiten zu können, die ihm weitere Informationen verschaffen.

Pippos Tyrannei, Lucas Veränderung, der Druck, der nun auf Juliane lastet, verschaffen Faber seine Chance. So informell wie konspirativ freundet sich die Ermittlerin Nora Dalay (Aylin Tezel) mit Juliane an. Kann man die Insiderin so weit bringen, ein Mikrofon zu tragen – und soll man ihr klar machen, dass das lebensgefährlich ist?

Lauter Zwickmühlen

Faber scheint kein Preis zu hoch zu sein, um einen Drogenring zu zerschlagen. Seine Kollegin Martina Bönisch (Anna Schudt) denkt da anders. In diese brisante Gemengelage platzen Batic und Leitmayr. Sie haben einen Haftbefehl für Pippo. Aber wenn sie den Burschen hochnehmen, ist die Observation am Ende. Das dritte Problem hat sie eingeholt: Wie viel Freiraum lässt man kleineren Verbrechern, um an größere heranzukommen?

Der Fall, dessen Zwickmühlen, die Zeichnung des Milieus, die nicht von jenen erzwungenen Abfederungen verzerrt wird, mit denen sich öffentlich-rechtliche Produktionen gern gegen den Vorwurf ethnischer Stereotype absichern, sie werden im zweiten Teil weiterentwickelt. Auch den hat Lange geschrieben, Pia Strietmann hat ihn inszeniert, und er ist ein sehr guter „Tatort“ geworden. Die Auftaktfolge aber ist absolut außergewöhnlich, von heilloser Bedrohlichkeit, die einem nie das Gefühl gibt, lediglich den Teil einer Reihe zu sehen, deren Kernfiguren und Eckwerte unantastbar sind.

Unberechenbare Cops

Die vertrauten Personen wirken plötzlich nicht mehr vertraut. Ihre Zukunft scheint so ungewiss, ihre Leben und Karrieren so fragil, als könne jeder im Lauf der nächsten Minuten final zu Fall kommen. Die Darsteller agieren auf jenem Niveau, das wir mit exzellenten US-Serien verbinden, und der Kameramann Hendrik Kley und die Cutterin Amina Lorenz schaffen im ersten Teil ein noch schraubstockartigeres Gefühl als Florian Emmerich (Kamera) und Bernd Euscher (Montage) im zweiten Teil.

Der Drehbuchautor Bernd Lange, der an der Filmakademie in Ludwigsburg studiert und unter anderem für Hans-Christian Schmid „Requiem“ geschrieben hat, geht auf erfrischende Weise furcht- und respektlos mit den Kommissaren um. Sie zeigen Beschädigungen durch ihren Beruf, sie sind unberechenbar in ihrem Wunsch, das Verbrechen zu packen zu bekommen. So kann es mit dem „Tatort“ gern die nächsten fünfzig Jahre weitergehen.

Info

Festworte: Volker Herres, der Programmdirektor des Ersten, muss die Doppelfolge zum Jubeltag zwar schon qua Amt loben. Aber er trifft es ganz richtig, wenn er preist: „Eigenwillig, ästhetisch und erzählerisch rasant ist hier eine fesselnde Fahrt in das Dunkel menschlicher Abgründe gelungen.“

Jubiläumsspaß: Zum fünfzigsten Geburtstag von Deutschlands erfolgreichster Krimireihe hätte man nicht unbedingt bitteren Ernst erwartet. Wer auf Launigeres eingestellt war, muss nach Entenhausen blicken. Im neuesten „Lustigen Taschenbuch“ (Egmont Ehapa) wird, nicht zum ersten Mal übrigens, der „Tatort“ parodiert. Die großen Kommissare, allen voran Schimauski, müssen zusammenarbeiten, und auch Donald Duck mischt sich ein.

Ausstrahlung: Teil eins von „In der Familie“ läuft am 29. November 2020 um 20.15 Uhr im Ersten, Teil zwei folgt am 6. Dezember. Beide Teile sind jeweils nach ihrer Ausstrahlung in der Mediathek des Senders abrufbar.