Ein Vater gesteht am dritten Verhandlungstag dem Landgericht Stuttgart, seinen behinderten Sohn missbraucht zu haben. Der Prozess ist von vielen Schwierigkeiten gezeichnet.

Stuttgart - Es hat lange gedauert, doch dann hat sich der Angeklagte doch noch entschlossen, ein uneingeschränktes Geständnis abzulegen. „Mein Mandant räumt die vorgeworfenen Sachverhalte vollumfänglich ein“, erklärte der Verteidiger Achim Wizemann im Namen des 57 Jahre alten Mannes, dem vorgeworfen wird, den eigenen, behinderten Sohn sexuell missbraucht zu haben. „Er bedauert sein Fehlverhalten außerordentlich.“ Am Anfang des Prozesses anderthalb Wochen zuvor hatte der Angeklagte noch erklären lassen, die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft würden „nicht zutreffen“. Dies wiederum war das Gegenteil seiner Aussage bei der Polizei, der er sich selbst gestellt hatte. Diese Angaben hatte er dann während der ersten beiden Verhandlungstage wiederum eingeschränkt und mit Träumen zu erklären versucht.

 

Ein komplexer Sachverhalt

Die Sache ist komplex in diesem Prozess vor der Achten Strafkammer des Landgerichts Stuttgart. Der 57-Jährige wohnt in einer Stadt im Strohgäu, er ist als Pflegehelfer in einem Krankenhaus beschäftigt. Und er hat einen Sohn, heute 24 Jahre alt, der an schweren Entwicklungsstörungen leidet und dadurch tagtäglich auf Hilfe angewiesen ist – bei fast allen Verrichtungen, die gesunde Menschen wie selbstverständlich bewältigen. Also auch bei der Körperpflege, beim Duschen. Dabei unterstützte ihn der Vater – und dabei soll es bis 2017 mehrere Jahre lang immer wieder zu Berührungen gekommen sein, die über das Selbstverständliche und Unvermeidbare hinausgehen – und die der Gesetzgeber als sexuellen Missbrauch unter Strafe stellt.

Deshalb steht der Vater nun vor Gericht. Er hatte sich im Sommer 2018 selbst bei der Polizei in Ludwigsburg selbst beschuldigt und damit das Verfahren ins Rollen gebracht. Auf den Aussagen des 57-Jährigen fußt die Anklage. Sein Sohn wohnt nicht mehr Zuhause, sondern in einer Einrichtung zwischen Heilbronn und Schwäbisch Hall. Der Vater war Jahrzehnte zuvor selbst zum Opfer geworden: Der Mann, so wurde bekannt, war in der Kindheit, ebenso wie seine Geschwister, vom eigenen Vater missbraucht worden. Was die angeklagten Übergriffe gegenüber dem eigenen Sohn in ein besonderes Licht rückt.

Konnte das Opfer die Übergriffe wahrnehmen?

Die Selbstanzeige, das immer weitere Abschwächen der eigenen Eingeständnisse vor Gericht bis zu deren Abstreiten, der Zustand des Opfers, der eine strafprozessual verwertbare Vernehmung aussichtslos machte – all das brachte die Kammer unter dem Vorsitz von Ulrich Tormählen in eine ganz besondere Situation.

Deshalb fragte der Vorsitzende Richter fast alle Zeugen, die das Opfer kannten und die über ihren Umgang mit dem jungen Mann und dessen Verhalten berichteten, eines: Ob sie einschätzen könnten, ob das Opfer die angeklagten Übergriffe als solche wahrnahm, und ob er solchen mutmaßlichen sexuellen Handlungen begegnen, ob er sie abwehren konnte. Diese Frage hatte auch mit der allgemeinen Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit des heute 24-Jährigen zu tun.

Opfer nicht angehört

Denn der junge Mann, der im Gerichtssaal nicht angehört wurde, ist von Autismus gezeichnet und spricht nicht. Er zeige aber deutlich, wenn ihm etwas nicht passe. Dies sagten alle Zeuginnen, die am dritten Verhandlungstag gehört wurden – ob frühere Betreuerinnen oder eine Ärztin im Winnender Klinikum für Psychiatrie, in dem das Opfer zur Behandlung war. Der dritte Aufenthalt zu Beginn dieses Jahres war sogar durch suizidale Gedanken ausgelöst worden. Wenn er sich auf ein „Gespräch“ mit einer vertrauten Person einließ, stellte er auf einem Brett Buchstaben zu Wörtern zusammen. Was einen Gedankenaustausch, der unter Sprechenden wenige Minuten dauern würde, auf eine Stunde ausdehnte.

An diesem Montag sollen die Plädoyers gehalten und vermutlich auch das Urteil verkündet werden. Die Kammer hat schon durchblicken lassen, dass insbesondere die Frage, ob eine Bewährung zugestanden werden könne, eher zu verneinen sei.