Wie eine kleine Tablette aus Wissenschaftlern Gurus macht: T.C. Boyle erzählt in seinem berauschenden Roman „Das Licht“ von der Geburt der Hippie-Bewegung aus dem Geist chemischer Umnachtung.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Die Romane T.C. Boyles spielen an den Rändern, wo die Ordnungen der Zivilisation ausfransen und von außen etwas hineinscheint, das dem Gewohnten und Festgelegten einen neuen Sinn verleiht. Natur, Sex, Gesundheit sind die heilsversprechenden Fetische, unter deren Zeichen seine fiktiven oder historischen Helden glauben, die dunklen Dämonen des amerikanischen Traums besiegen zu können: Enttäuschung, Langeweile, Spießigkeit. Und weil Boyle dabei die gegenkulturellen Moden mit feinem Gespür für die schmerzhafte Kollision zwischen utopischer Hoffnung und widerständiger Wirklichkeit in effektvolle Plots verwandelt, übersieht man leicht, wie klassisch die Romane dieses Popstars der Gegenwartsliteratur eigentlich sind. Denn um was geht es in dieser Gattung anderes, als darum, dass unser Innenleben nicht mit dem übereinstimmt, was ihm die dürftigen äußeren Verhältnisse zu bieten haben.

 

Das lässt sich natürlich auch als psychologisches Problem fassen. Deshalb steht im Mittelpunkt von Boyles neuem Roman „Das Licht“ ein Kreis junger experimenteller Harvard-Psychologen. Sie untersuchen, ob man in den Weiten Bewusstsein nicht all das finden kann, was man in der Wirklichkeit vergeblich sucht, Gemeinschaft, Erfüllung, Gott – die große Erleuchtung.

Den Zugang in diese Sphären hat ein Selbstversuch des Schweizer Chemikers Albert Hofmann gebahnt, der durch Zufall auf die außerordentlichen Wirkungen eines Stoffs gestoßen ist, der später unter dem Namen LSD bewusstseinserweiternde Karriere gemacht hat. Und so rast im Vorspiel des Romans an einem Apriltag 1943 ein verzückter Wissenschaftler mit schwarzen Pupillen auf seinem Fahrrad durch die brave Schweiz, verfolgt von seiner verdutzten Laborantin, die dem Spuk schließlich mit dem landestypischen Gegengift Milch ein Ende bereitet.

Ekstatische Glückserfahrungen

Doch damit war die Sache in der Welt. Und auf deren anderer Seite machen sich Anfang der 60er Jahre an der amerikanischen Eliteuniversität Harvard eine Gruppe nonkonformistischer Wissenschaftler um den charismatischen Professor Timothy Leary die Entdeckung Hofmanns zunutze, die erstarrten Dogmen ihres Fachs mit entgrenzenden Erlebnissen zu unterlaufen: „Man brauchte keine Bücher, keine Studien, kein Laborratten – man brauchte nur diese kleine rosarote Tablette. Es war wie Zauberei.“

Der Doktorand Fitz und seine Frau Joanie geraten nach einer der wöchentlichen Sessions, bei der das halluzinogene Sakrament gespendet wird, in den Bann des akademischen Gurus. Aus den anfänglichen karrieristischen Motiven der Teilhabe werden Überzeugungen, aus wissenschaftlichem Erkenntnisstreben eine mystische Suche – und ein wachsender Appetit auf besagte kleine Wunderpille. Pharmakologische, gruppendynamische und gesellschaftliche Faktoren verstärken sich gegenseitig zu einem unentwirrbaren Gespinst aus Abhängigkeiten. Und bald wächst der unorthodoxe Selbsterforschungsbund zu einer Art heiligen Familie zusammen, deren Evangelium in der Beat-Generation auf fruchtbaren Boden fällt.

Es ist die Geburt der Hippie-Bewegung aus dem Geist chemischer Umnachtung, die Boyle erzählt, der seinen eigenen Erfahrungen mit harten Drogen gerade noch rechtzeitig abgeschworen hat, um nun von außen wie innen plastisch gestalten zu können, was seine Gestalten umtreibt – Ekstatische Glückserfahrungen und Ernüchterung: „Gott. Hast du Gott gesehen?“, wird Fitz gefragt, nachdem er eben noch Stimmen gehört hatte, wo keine sein konnten, und das Universum kurzfristig auf die Größe eines Gummiballs zusammengeschrumpft war, bevor es sich wieder ausdehnte. „Er schüttelte den Kopf. Er musste pinkeln, er brauchte ein Bett.“

Räucherstäbchen und Bongo-Trommeln

Seine Dissertation verliert er über den ausschweifenden Drogen-Partys immer mehr aus den Augen ebenso wie seine Frau und seinen Sohn. Denn in der großen glücklichen Familie, die sie jetzt alle bilden, ist für die harmoniefeindlichen Ausschließlichkeitsansprüche des Ehe- und Besitzspiels natürlich kein Platz. Dafür wird er nach einer einwöchigen Partnertauschsession auf die 19 Jahre jüngere Lori geprägt, der er fortan folgt wie eine fehlgepolte Graugans.

Die Experimente, in die sich die mit LSD Geimpften gewissermaßen als Laborratten in eigener Sache stürzen, zeichnet Boyle stellvertretend für den in psychedelische Wunschwelten verirrten Wissenschaftler auf, präzise und einfühlsam zugleich. In seinem letzten Roman trainierten „Terranauten“ das Überleben in einem künstlichen Ökosystem. Hier sind es Psychonauten, die erleben müssen, in ihrem drogistischen Kosmos eingeholt zu werden von den alten Übeln Eitelkeit, Eifersucht und dem Wunsch nach immer mehr.

Es wäre ein leichtes gewesen, die Erzählung an jedem beliebigen Punkt abstürzen zu lassen in einen pädagogischen Horrortrip. Und Suchttherapeuten wie nach schnell wirkendem Unterhaltungsstoff gierende Leser hätten sich das hin und wieder zweifellos gewünscht: dass es knallt, dass falsche Priester auffliegen und die ekstatischen Erfahrungen wenigstens mit bitterem Katzenjammer und irreparablen Schäden an Leib und Seele abgeglichen werden müssten. Immer wieder setzt der gewiefte Erzähler Signale, es könnte nun endlich soweit sein, dass das Realitätsprinzip die Berauschten einholt und das ganze kippt. Wenn man schon nur als lesender Zaungast an den erstaunlichen Erfahrungen, die hier beschrieben werden, teilhaben kann, möchte man doch wenigstens bestätigt bekommen, was einem dadurch auch erspart geblieben ist.

Doch diese Genugtuung verweigert Boyle. Und genau darin liegt die Größe seines Romans. Er wahrt dem Unternehmen seine Würde, seinen utopischen Ernst, ohne dass ihm entginge, welches enorme Maß an unfreiwilliger Komik, falschem Hokuspokus von Räucherstäbchen und Bongo-Trommeln und berechnender Geschäftstüchtigkeit den Traum vom Lebens als immerwährender spiritueller Glücksparty aufwiegt.

„Licht“ ist die Chronik berauschender Ereignisse, in die das Attentat auf John F. Kennedy platzt. Es ist zugleich die Studie eines großen Experiments und ein in kräftigen Farben leuchtender Bildungsroman über zusehends verwirrte Gottsucher, die von ihrer sakramentalen Speisung einfach nicht genug kriegen können. Wer wollte da den ersten Stein werfen?

T.C. Boyle: Das Licht. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag. 384 Seiten, 25 Euro.