Ein Professor und ein Elektroniker wollen Amputierten ein besseres Leben ermöglichen. Gemeinsam haben sie ein System entwickelt, das Prothesenträgern einen natürlicheren Bewegungsablauf ermöglicht – zu einem erstaunlich günstigen Preis.

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Spaichingen - Mit einer Katze fing alles an. Im Herbst 2010 fütterte ein Student von Alfred Meier-Koll seinen Stubentiger – und hatte dabei plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. „Als die Katze an seiner rechten Hand leckte, hatte er die Empfindung, dass das Tier sein amputiertes rechtes Bein berührte“, erzählt Meier-Koll, der am Standort Friedrichshafen der privaten Diploma-Hochschule Physiologie für Medizinberufe lehrt und dort die Forschungsstelle für experimentelle Ergo- und Physiotherapie leitet.

 

Dass Menschen, die eine Gliedmaße verloren haben, diese oft trotzdem noch spüren – teilweise in Form heftiger Phantomschmerzen –, ist für Ärzte und Betroffene nichts Neues. Was den Physiker und Neurobiologen Meier-Koll jedoch wunderte war, dass die Phantomempfindung durch die Berührung an einer ganz anderen Körperstelle ausgelöst wurde. Ein genauerer Blick in die Fachliteratur zeigte, dass sogenannte rezeptive Felder bei Amputierten auch schon von anderen Wissenschaftlern beobachtet worden waren. Eine praktische Anwendung gab es bis dato jedoch nicht.

Meier-Koll ließ das Thema nicht mehr los. In weiteren Untersuchungen stellte er fest, dass sich Phantom-Empfindungen nicht nur durch taktile Reize, sondern auch durch elektrische Stimulation auslösen lassen. Doch auch mit dieser Erkenntnis ließ sich zunächst nicht viel anfangen. Das änderte sich, als Meier-Koll vor rund vier Jahren Karl-Heinz Weber kennenlernte, den Inhaber der W+S Messsysteme GmbH.

Schmerzhafte Erfahrungen

Das Spaichinger Elektronikunternehmen mit rund 45 Mitarbeitern entwickelt Sensoren für die Industrie, die zum Beispiel in Echtzeit messen, wie schnell sich die Antriebswelle einer Maschine dreht oder in welcher Position sich ein Roboterarm gerade befindet. Weber brachte nicht nur sein Fachwissen auf den Gebieten Elektronik und Sensorik mit, sondern auch schmerzhafte eigene Erfahrungen: Seit einem unglücklichen Treppensturz, dessen Folgen elf Jahre später die Amputation seines rechten Unterschenkels erforderlich machten, trägt er selbst eine Prothese. Der Kontakt mit dem Professor aus Friedrichshafen kam zustande, weil Webers Arzt ein Kollege von Meier-Koll war.

Zusammen haben Weber und Meier- Koll einen sogenannten Phantomstimulator entwickelt, der Beinprothesenträger spüren lässt, wie und worauf sie gerade mit ihrem künstlichen Bein stehen. Die Einzelteile liegen auf einer Arbeitsplatte in einer großteils noch leeren Halle im Spaichinger Industriegebiet. Die Einlegesohlen sehen auf den ersten Blick fast so aus wie jene, die man im Schuhgeschäft kaufen kann. Sie fallen allerdings etwas dicker aus und sind mit Kabeln ausgerüstet, die seitlich herausragen. Die Sohlen passen in einen normalen Schuh. Dreht man sie um, kommen drei längliche Aufkleber zum Vorschein – je einer rechts und links im Bereich des Ballens und einer an der Ferse. Es handelt sich um druckempfindliche Sensoren, die messen, wie stark die jeweilige Stelle gerade belastet wird. „Das sind sozusagen die Sinnesorgane unseres Systems“, sagt Meier-Koll.

Die Messergebnisse der Sensoren fließen in ein weißes Kästchen, das bei den ersten Prototypen etwa halb so groß ist wie eine Zigarrenschachtel. Die Daten werden per Funk an den Impulsgeber in einem separaten Gehäuse weitergeleitet. Dieser übersetzt sie in elektrische Signale, die mit Hilfe selbstklebender Elektroden auf die Haut übertragen werden. Nimmt man eine der Elektroden in die Hand, spürt man als Ungeübter höchstens ein leichtes Kribbeln. Ganz anders bei einem Amputierten. Vorausgesetzt, die Elektroden sitzen an den richtigen Stellen, geben sie ihm die Empfindung, dass er mit Ballen oder Ferse seines nicht mehr vorhandenen Fußes auftritt.

Bessere Bewegungskontrolle

„Ohne den Phantomstimulator konnte ich beim Radfahren nicht spüren, ob ich richtig auf dem Pedal stehe“, erinnert sich Weber. Und beim Anhalten musste er immer durch genaues Hinsehen prüfen, ob der Fuß auf dem Bordstein oder auf der Straße steht. „Da fällt man manchmal um, bevor man schauen kann“, sagt er. Solche Probleme hat der 59-Jährige, der auch Motorrad fährt, nun nicht mehr.

Die fühlende Prothese gebe ihrem Träger mehr Kontrolle über seine Bewegungen, sagt Weber. Die Folge sei ein natürlicheres Gangbild. Das belegen auch Videos, die Meier-Koll und er von den bisherigen Versuchspersonen gedreht haben. Darunter sind auch gravierende Fälle – etwa ein beidseitig beinamputierte Frau, die inzwischen ohne Hilfe Treppen steigen kann. Dass sich Prothesenträger mit dem Stimulator wohler fühlen, könne man schon am weniger angestrengten Gesichtsausdruck der Probanden sehen, sagt Weber.

Das neurobiologische Phänomen, das die fühlende Prothese möglich macht, ist die sogenannte synaptische Plastizität – also die Fähigkeit von Nervenzellen, neue Verbindungen zu knüpfen. Nach der Amputation einer Gliedmaße bekommen die zuständigen Hirnregionen von dort keine Signale mehr und sind gewissermaßen arbeitslos.

Gleichzeitig beginnt im Hirn eine Umorganisation. „Innerhalb weniger Monate wachsen Nervenzellen aus benachbarten Teilen der Hirnrinde in das brachliegende Areal ein – fast wie Unkraut in ein leeres Gartenbeet“, erläutert Meier-Koll. Dadurch entstünden neue Verbindungen. Welche das sind, sei aber nicht vorherzusagen und daher individuell verschieden. Der hochgewachsene 72-Jährige deutet auf seinen eigenen Kopf: „Ist es nicht unglaublich, was da oben passiert?“ fragt er begeistert.

Gesucht: sensible Hautpartien

Um die richtigen Hautpartien zu finden, werden die Probanden systematisch mit einem feinen Aquarellpinsel abgetastet. Auf zahlreichen Fotos haben Meier-Koll und Weber die rezeptiven Felder ihrer bisherigen Testpersonen mit bunten Markierungen gekennzeichnet. Bei einem beinamputierten Probanden konnten sie etwa in der Handfläche drei benachbarte Bereiche identifizieren, die Phantomempfindungen für Ballen, Fußgewölbe und Fersen auslösten. Daumen und kleiner Finger entsprachen dem großen und dem kleinen Zeh. Häufig befinden sich die sensiblen Stellen, an denen die Elektroden des Stimulators aufgeklebt werden, auch an Unter- oder Oberarmen sowie am Oberschenkel oder im Beckenbereich.

An rund 70 Probanden haben Meier-Koll und Weber ihre Entwicklung bislang getestet, etwa 40 Prothesenträger nutzen die Technik schon permanent. Den Preis für den Phantom-Stimulator, der sich im Prinzip an jeder Prothese anbringen lässt, haben Meier Koll mit 600 bis 800 Euro moderat angesetzt. „Wir wollen das System möglichst vielen Amputierten zugänglich machen“, sagen die Partner, die dazu zusammen das Unternehmen CortXSensorics gegründet haben.

Förderung durch das Bundesforschungsministerium

Der Preis sei so kalkuliert, dass genug Geld hereinkommt, um die Weiterentwicklung zu finanzieren. Auch das Bundesforschungsministerium hat das Potenzial der Technologie erkannt – eine Förderzusage liege bereits vor, so Meier-Koll. Ein Verkauf des Know-hows oder die Vergabe von Lizenzen an einen der großen Prothesenhersteller sei nicht geplant, beteuern der Professor und der Elektroniker. Sonst verschwinde der Stimulator am Ende in einer Hightech-Prothese für 40 000 Euro, die für Menschen in ärmeren Ländern unerreichbar sei. Bisher sind rund 50 000 Euro in die Entwicklung geflossen.

Bei der Patentanmeldung für den Phantomstimulator habe sich gezeigt, dass es zwar einige ähnliche Ansätze gegeben habe, aber keiner sei so einfach anwendbar, berichtet Meier-Koll. So sei es bei anderen Systemen teilweise erforderlich, Elektroden zu implantieren. „Wir haben ein Alleinstellungsmerkmal“, ist Weber überzeugt. Er führt das auch darauf zurück, dass er als Betroffener seine eigenen Erfahrungen in die Entwicklung einbringen konnte. „Nichtbetroffene, die einem Amputierten helfen wollen, tun sich naturgemäß schwerer“, sagt er.

Amputationen und Prothesen

Häufigkeit Der Bundesverband für Menschen mit Arm- oder Beinamputationen schätzt, dass in Deutschland pro Jahr rund 60 000 Menschen von einer Amputation der unteren Extremitäten betroffen sind. Exakte Zahlen gibt es nicht. Der allergrößte Teil der Eingriffe ist auf (Alters-)Diabetes und Durchblutungsstörungen zurückzuführen. Unfälle oder Verletzungen sind Studien zufolge in weniger als fünf Prozent der Fälle die Ursache.

Prothesen
Aus den Holzstümpfen früherer Zeiten sind Hightech-Produkte geworden, die mehrere zehntausend Euro kosten. Auch aktiv bewegte Ersatzgliedmaßen sind möglich – etwa Handprothesen, bei denen sich einzelne Finger steuern lassen. Damit das funktioniert, müssen teilweise Nerven verpflanzt oder Elektroden implantiert werden. Geforscht wird auch an Systemen, die die „Bewegungswünsche“ des Prothesenträgers durch Messung der Hirnaktivität erfassen und umsetzen sollen.