Krize ist seit 20 Jahren eine Marke in Techno-Stuttgart und von Beginn an im SEMF-Team. Wir haben mit ihm über seinen Chillout Floor und die Stuttgarter Szene gesprochen.

Stuttgart - Cristoforo „Krize“ Marrazzo ist nicht nur seit Beginn an mit im SEMF-Team, als die Veranstaltung noch Mitte der Nullerjahre relativ klein in der Innenstadt gestartet wurde, sondern seit 20 Jahren in verschiedenen Funktionen ein integraler Bestandteil der Stuttgarter Techno-Szene – sei es als Magazinmacher, DJ, Produzent oder interdisziplinärer Veranstalter. Krize kümmert sich beim SEMF mit viel Liebe um den Chillout-Floor im Atrium, der von verschiedenen Locals mitunter etwas experimenteller bespielt wird und somit auch den aktuellen Electronic-Stand der Stadt Stuttgart repräsentiert.

Das Atrium, der Chill Out Floor, der Local Floor, der etwas andere Floor. Seit letztem Jahr endgültig mit einem zwingenden wie wichtigen Konzept beim SEMF genutzt. Wie kam es dazu?
Ab 2012 war im Atrium der Chill Out beheimatet. Zunächst ohne Bühne, was für mich als Veranstalter immer blöd aussieht. 2013 starteten mein Team und ich das neue „Komme Was Wolle“ Kunst- und Kultur-Konzept an Donnerstagen und daraus ergab sich ein Heer aus tollen Künstlern und Musikern, die regelmäßig auftraten. Zudem gab es von mir organisierte Artist- und Bandwettbewerbe, wo nochmal aus verschiedenen Bereichen einige interessante Acts aufgetaucht sind. Es hat zeitlich alles gepasst. Wir haben dann eine kleine Bühne aufgebaut und einfach mal versucht, 2013 noch unter minimalsten finanziellen Bedingungen, mit Poetry Slam, Live-Painting, zwei DJs, Toni Hofmann als Singer/Songwriter live und Levin Goes Lightly live was zu starten. Alles in allem wurde der Chill Out mit dem Programm gut angenommen. Wir haben am Konzept weitergestrickt, entschieden rein auf regionale Heroes zu setzen. Und der eine oder andere Act hat mittlerweile den Sprung auf die großen SEMF Bühnen geschafft.

Wie dieses Jahr Niklas Ibach zum Beispiel. Der kühle Event-Rechner könnte wiederum behaupten, rein betriebswirtschaftlich könnte man sich den Floor sparen, denn auf so einen Rave kommen die Gäste eh nur wegen den Headlinern. Musstest du dafür schwer kämpfen, um etwas lokale Musikkultur geballt auf das Festival einbringen zu können?
Es ging eigentlich, das SEMF ist mit der Zeit ja auch gewachsen. Das SEMF-Team hat natürlich gesehen, dass das Konzept in diesem Amphitheaterartigen, zentral gelegenen Raum gut gepasst und das ganze als zusätzlicher Chill-Out-Floor aufgewertet hat. Und dass es immer viel zu wenig Raum bzw. gute Slots für Locals gab, auf dem Headlinerlastigen SEMF, wussten wir alle. Klar, muss ich da immer sehr auf die Kosten schauen, an allen Stellen gut verhandeln, Leute überzeugen und auch wenn es auf dem Floor nicht sehr laut sein darf, ist es als Plattform für die Artists sowie als cosy-Floor fürs Festival eine super Sache. Wir präsentieren die Locals auf der Website wie unsere Headliner und viele nutzen die Möglichkeit, um auf sich aufmerksam zu machen, mit PR im Vorfeld und ihrer Performance vor Ort. Außerdem geht es auch um die Identifikation der Stuttgarter Gäste und Künstler mit dem Event an sich. Da hilft so ein Floor natürlich.

Ist der Floor, der quasi nicht der Zuschauer-Quote unterliegt und musikalisch auch etwas experimenteller ist, eure Variante des Bildungsauftrags wie bei den Öffentlich-Rechtlichen?
Sind eher mehrere verschiedene Punkte, die da reinspielen. Bei der Planung selektiere ich natürlich automatisch ein Stück weit, was auf den Floor passen würde. Ab dem Zeitpunkt vertraue ich dann den Acts und sie dürfen spielen, was sie wollen. Ob Four to the Floor oder nicht, spielt dann für mich keine Rolle. Ob man das als Bildungsauftrag sehen möchte - ein Stück weit ja. Ich finde es sehr wichtig, qualitative Musik oder Kunst zu supporten, präsentieren und eine Plattform bieten zu können. Schließlich haben alle Acts auf den Bühnen Vorbildfunktion, sind oft im ähnlichen Alter wie das Publikum und können jederzeit mit einer guten Performance Anreize schaffen sich mit Kultur, in welcher Form auch immer, auseinanderzusetzen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, finde ich.

Definitiv.
Ich finde es momentan auch eine gute Zeit für Bands und Projekte. Allein was Die Nerven gerade auf die Beine stellen, so komplett aus sich selbst, ohne sich verbiegen zu müssen, ohne Support von irgendwelchen öffentlichen Institutionen, zeigt den Menschen, dass man es mit Musik schaffen kann. Ein Stück weit spürt man also die Bugwellen deren Erfolges und Stuttgart wird etwas genauer beäugt. Das ist definitiv eine Chance für Stuttgart und deren Künstler, auch wenn Die Nerven musikalisch in anderen Gefilden rocken. Andere Stuttgarter Acts, die einen super Lauf haben, sind Leute wie der Sibold, Gottlieb Scheppert, Rapha Dincsoy, Simo Lorenz, SHDW, Niklas Ibach. Von dem her, ja, wir haben einen kleinen Bildungsauftrag, aber zu den Öffentlich-Rechtlichen würde ich uns nicht zählen. Auch wenn wir in dem Maße GEMA Gebühren zahlen müssen, dass man denken könnte, wir kaufen uns bei Ihnen ein (lacht).

Nach welchen Kriterien wählst du die Acts aus?
Talent, Durchhaltevermögen, Ideenreichtum, Performance, Individualität, Ehrgeiz und natürlich muss es in unseren groben musikalischen Rahmen passen.

Du wirst sicherlich regelrecht überflutet von Anfragen der Künstler. Hat man eigentlich noch die Übersicht heutzutage? Gefühlsmäßig gibt es allein in Stuttgart 3.000 Electronic-DJ/Acts.
Ja, es gibt gefühlt sehr viele Acts, aber Anfragen halten sich für mich in Grenzen, und da wir ja noch ein Haupt-Booking-Team haben, landen viele Anfragen nicht bei mir. Leute, die ich persönlich kenne, melden sich und ich prüfe für mich, ob es passen könnte. Es gibt bei mir im Kopf auch schon immer eine Art Warteliste. Ich habe meist schon recht früh klare Vorstellungen fürs nächste SEMF. Ich frage gern auch andere Musikliebhaber, bekomme Tipps, hör mir selbst einiges an. Ein weiterer Gedanke beim Booking ist für mich den Acts/Bands/Projekten ein Stück weit danke zu sagen, für ihr Engagement, Durchhaltevermögen und das Hochhalten von qualitativer elektronischer Tanzmusik, wie z.B. Rework, Igor Tipura, Panopticum, Outer Rim, Sandtogether e.V., Love-It Crew, Aromat, FTWR, Contain't, Elektrosmog, Micha Fiedler von Annagemina, Carsten Netz von Gomo Park, Amaru. Einfach Leute, die das, was sie machen mit Herz machen, seit Jahren in Stuttgart am Start sind und mich teilweise schon seit ein, zwei Jahrzehnten begleiten. Da gibt es einige in der Stadt und im Umfeld. Sorry an die, die ich vergessen habe. Vor allem in Stuttgart, einer Stadt, die es der elektronischen Subkultur schon immer schwierig gemacht hat durch Kultur-/Clublocation-Fluktuation, in Ruhe etwas aufzubauen. Aber dass die Szene gesund, motiviert und am Leben ist, sieht man an den ganzen Aktivitäten und Ausweichdomizilen, die sie sich immer wieder sucht, um sich doch noch in geeignetem Rahmen präsentieren zu können.

Gehen wir mal ein paar von dem Floor durch: Wer ist Maralotta?
Sie legt sehr geile Musik auf, rein Vinyl und ist 24, kommt ursprünglich aus dem Ludwigsburger Raum, hat in Konstanz Kommunikationsdesign studiert und dort auch viel musiziert und ist Musik-Liebhaberin. Sie arbeitet seit kurzem in Leipzig in der Kulturszene und ist dort auch sehr aktiv in der Musik- und Kunstszene. Sie ist noch recht frisch und unbefangen, hat aber ihren eigenen Style und geht an die Sache mit einer überzeugenden Ernsthaftigkeit ran. Dinge, die ich mit der Zeit zu schätzen gelernt habe.

 



Das Duo Annagemina bringt ein neues Album raus, angekündigt haben sie „erwachsenen Electropop mit ganz viel Liebe für tiefen Bass.“ Wie ist es?
Das Album kommt erst im April 2016 auf den Markt, es wird sicher cool und frisch klingen, da mache ich mir keine Sorgen. Ein paar neue Tracks werden sie sicherlich auf dem Festival präsentieren. Aktuell erscheinen Remixe auf dem Stuttgarter Libelle-Label und sie haben auch den Soundtrack für den Film “Die Katze” produziert, der gerade auf Filmfestivals läuft, und dabei den einen oder anderen Preis absahnt. Micha Fiedler ist ein umtriebiger Produzent, der viele Projekte macht und sowohl als Tokyo Tower sowie als Label-Betreiber von Mutan Records aktiv ist.

Wer ist Tillmann Gatter?
Tillmann ist ein 35-jähriger Grafikdesigner aus Schwäbisch Gmünd, der schon 20 Jahre DJ-Leben auf dem Buckel hat und eher in der Gmünder Ecke ein Local Hero ist. Ich habe ihn über den aktiven Kunstverein Sandtogether kennen und schätzen gelernt. Ein Wunder, dass der noch nicht viel mehr in Stuttgart unterwegs ist. Er legt ebenso rein mit Vinyl auf, hauptsächlich in Richtung Techno/Techhouse und spielt auf dem SEMF dazu mit seiner Geige. Klingt wohl zunächst komisch, aber wird sicher gut. Lasst Euch überraschen. Ein Garant für coolen Sound und ein umtriebiger typ, der auch als Möbel-Designer für “Type a Seat” aktiv ist. Für mich eine Neuentdeckung sozusagen.

Rework hingegen sind auch absolut unverwüstlich, oder?
Ja, allerdings. Michael Kübler habe ich vor 20 Jahren schon kennen und schätzen gelernt. Rework hatten damals ihr Studio neben unserem Partysan-Büro und seitdem sind die Jungs ja ständig aktiv und ich habe das Gefühl, dass sie im letzten Jahr nochmal durchgestartet sind. Ihr eigenes Loveyeah-Label, diverse Releases auf coolen Labels wie Visionquest oder Items & Things sowie ihre eigene Partyreihe geben dem ganzen nochmals einen Schub. Außerdem spielen sie still und leise auf der ganzen Welt Gigs. Freue mich sie mit am Start zu haben.

So ein Festival am Jahresende ist immer auch eine Art Rückschau, Bestandsaufnahme, was lief dieses Jahr, wie hat sich die Musik entwickelt, was zuckt gerade wo.
Ist global natürlich schwierig zu sagen. Die Styles vermischen sich mehr und mehr. Viele suchen neue Wege ihre Musik zu strukturieren und darzubieten, was positiv ist. Die technische Entwicklung gibt ihnen die Tools in die Hand ihre Musik günstig und doch professionell zu produzieren. Oft fehlt eben noch das Know How, das mit der Zeit aber kommen kann und vielen eine Chance gibt, auch mit den globalen Online Vermarktungs- und Promotion-Möglichkeiten. Aber ich sehe momentan kein neues Mega-Ding am Horizont, das einen umhaut. Das man zunehmend wieder mehr auf Vinyl-Veröffentlichungen setzt, lässt aber aktuell hoffen, dass wieder mehr Augenmerk auf die Release-Qualität gelegt wird. Das ist schließlich auch eine finanzielle Frage: Wenn Vinyl-Labels ihre Kosten wieder einspielen sollen, muss der Track auf der Platte natürlich ein gewisses Level haben.

Wo steht Stuttgart aktuell deiner Meinung nach, also in verschiedenen Punkten: Clubs, Künstler, Musiktrends?
Stuttgart ist auf einem guten Weg. Gefühlt werden es immer mehr Acts und Projekte, die im Electronic Music Bizz was bewegen und sich nach vorne gespielt haben. Die erfolgreicheren Künstler sind immer selbst am produzieren und beschränken sich nicht auf reines Djing. Manche davon betreiben dazu parallel gar ein Label. Speziell clubtechnisch aber fand ich dieses Jahr sehr enttäuschend in Stuttgart. Natürlich geben die üblichen verdächtigen Clubs Gas, haben gute Bookings, Kowalski sticht da noch am ehesten raus, auch das Freund & Kupferstecher mit seinen freshen und mutigen Bookings, ansonsten doch ein eher überschaubares Jahr. Ein Glück sind vor allem im Sommer diverse Kollektive mutig genug, Open Airs und sonstige Aktionen/Parties in Off-Locations zu veranstalten - allen Widrigkeiten unserer “Kultur-Stadt” zum Trotz. Das zeugt nicht von Resignation der Kulturschaffenden in Stuttgart und ist ein gutes Zeichen. Aber sollte Contain’t tatsächlich aufhören existieren zu dürfen, wäre das ein riesiger Verlust. Da muss die Stadt einfach viel mehr Liebe zu ihrer Subkultur entwickeln und zeigen.

Bei welchem Local siehst du Potential für mehr im Jahr 2016?
Das ist immer sehr schwierig einzuschätzen. Luft nach oben haben einige. Bin gespannt auf das neue Album von Annagemina. SHDW & Obscure Shape sammeln fleissig Credits. Das Umfeld vom Club Lehmann bietet natürlich mit Club, vielen hochkarätigen Gast-DJs und Agentur ein fruchtbares Umfeld. Da tummeln sich Leute wie Rapha Dincsoy, Simo Lorenz, Hours, Kneer & Koegler. Igor Tipura samt Dunstkreis sowie Label ist am Start. Aus dem LoveIt Umfeld erwarte ich auch einiges 2016. Ein Ben Muetsch, Niklas Ibach, Nemelka sind erst am Anfang ihrer Entwicklung. Und klar, Marius Lehnert ist immer am Ball sowie auch Konstantin Sibold immer für eine Überraschung gut ist und noch Luft nach oben hat. Alles in allem sehe ich eine positive Entwicklung in dem Bereich und bin gespannt was da noch alles passiert.

Wie steht´s mit deinen eigenen musikalischen Aktivitäten? Schon was veröffentlicht?
Bin mit Nemelka am produzieren. Aktuell basteln wir an einer neuen EP und dem dazugehörigen Live Act. Letzte Woche kam unser aktueller Remix für Sonny Humans “Loving You” auf den Markt. Im Mai veröffentlichten wir einen Compilation Beitrag für das SETA Label. Wir sind dran.

Du gehörst seit Anfang an zur SEMF-Crew, die mit einigen Hundert Leuten gestartet ist. Wenn dieses Mal bis zu 20.000 Gäste kommen, was denkst du dann?
Geil - hoffentlich läuft alles glatt.