Sie sind 12, 13 und 14 Jahre alt und auf den Sprung ins Erwachsenenleben. Doch dann bekamen Celine, Mario und Marleen die Diagnose Leukämie.

Stuttgart - Im Stuttgarter Olgahospital herrscht in der Elternküche der Station MC 31 gegen 18 Uhr ziemlicher Betrieb. Die Angehörigen der stationär untergebrachten Kinder und Jugendlichen kommen und gehen, bereiten Tee, wärmen Essen auf.

 

Mario Saraivas Mutter kocht Spaghetti, sein Vater lässt sich am Esstisch nieder und checkt schnell sein Smartphone, bevor er ins Zimmer seines Sohnes zurückkehrt.

Marleen Küchlers Vater holt sich eine Tasse frisch gebrühten Kaffee und setzt sich zu seiner Frau an den Tisch. Sie haben sich heute noch nicht gesehen, sein Leben spielt sich draußen im Beruf ab, ihres drinnen im Krankenhaus. Diesen gemeinsamen Augenblick in der Küche verdanken sie der Tatsache, dass ihre Tochter mit einer Freundin Karten spielt und sie die Mutter im Moment nicht braucht.

Im Gruppenzimmer der Station MC 32 haben Celine Wissmanns Eltern mittags Schichtwechsel. Die Mutter der 14-Jährigen eilt nach Hause zum zehnjährigen Sohn Noah, nun steht an ihrer Stelle der Vater seiner Tochter während der ambulanten Chemotherapie bei.

Marios, Marleens und Celines Eltern betreuen ihre an Leukämie erkrankten Kinder fast rund um die Uhr. Sie kontrollieren Infusionen, springen mit der Nierenschale hinzu, wenn der Brechreiz kommt, sind da, wenn ihre Kinder von Traurigkeit überwältigt werden. In ihren Familien ist nichts mehr planbar. Wann was wie passiert, kann keiner vorhersagen. Ihr Leben ist seit dem Tag X ein einziges Improvisieren. Der Tag X, das ist für sie jener Tag, an dem ihre Kinder die Diagnose Leukämie erhielten, jener Tag, dessen Datum keiner von ihnen mehr vergessen wird.

Celine Foto: Gottfried Stoppel

Celine hatte eben ihre Karateprüfung absolviert, als sie schlapp in der Ecke lag und Schmerzen im Handgelenk verspürte. Was nach einer Verletzung aussah, wurde von der Orthopädin sofort als etwas weitaus Bedrohlicheres eingestuft. Sie nahm Blut, wenig später schon rief das Labor an. Am selben Tag noch, dem 9. April 2015, erfuhr Celine, dass sie an akuter lymphoblastischer Leukämie mit Philadelphia-Chromosom leidet, einem verkürzten Chromosom, das zu einer sehr seltenen Form von Leukämie führt und Celine zur Hochrisikopatientin macht. Bevor sie sich versah, lag die damals 13-Jährige im Olgahospital und bekam ihre erste Chemotherapie.

Marleen war gerade aufs Rutesheimer Gymnasium gewechselt und freute sich auf die neue Schule. Einzig die Tatsache, dass sie sich nach der Entfernung von Polypen nicht so recht erholen wollte, trübte den Schulstart. Eine Woche Teneriffa in den Herbstferien sollte Besserung bringen, doch in der letzten Nacht bekam das Mädchen hohes Fieber. Der Rückflug wurde zur Tortur und endete in der Pforzheimer Hals-Nasen-Ohren-Klinik. Die Ärzte reagierten schnell und überwiesen Marleen ins Olgahospital. Dort erhielt sie am 4. November 2013 die Diagnose Leukämie.

Mario Foto: Gottfried Stoppel

Eine Woche lang wollten Mario und seine Eltern in den Pfingstferien Urlaub in Portugal machen. Morgens ging der Junge noch in Stuttgart mit seinem Hund spazieren, abends entdeckte er in Portimão rote Punkte am Fußgelenk. Die Familie wollte in einer Apotheke eine Salbe gegen die vermutete allergische Reaktion kaufen, doch die Apothekerin schickte Mario sofort zum Arzt, der den Jungen wiederum ins örtliche Krankenhaus einwies. Wenige Stunden später wurde Mario als Notfall ins rund 300 Kilometer entfernte Lissabon verlegt. Dort sollte er 30 Tage in einer Spezialklinik bleiben, doch dank verbesserter Blutwerte konnte er am nächsten Tag mit einem eilig gebuchten Flug nach München und weiter ins Olgahospital gebracht werden. Hier war bei seiner Ankunft am 4. Juni 2015 schon alles vorbereitet, jetzt erfuhr auch er, dass er an Leukämie erkrankt war. Der Schock war groß, doch die Erleichterung darüber, wieder zu Hause in Stuttgart zu sein, noch größer.

„Zuhause“ heißt für Mario, dass die ganze Familie bei ihm sein kann. Liegt er in der Klinik, besuchen ihn seine Angehörigen, wann immer es geht. Auch daheim ist immer jemand bei ihm, abends essen alle gemeinsam. „Wir halten zusammen“, lautet das Kredo, das jeder in der Familie verinnerlicht hat. Und Mario selbst ist klar: „Ich kämpfe nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie.“

Besonders wichtig für ihn wurde in den vergangenen Monaten sein Schwager Marcel. Der junge Krankenpfleger war früher selbst an Krebs erkrankt und kann auf Augenhöhe mit Mario sprechen. Er weiß, welche Ängste der Junge durchmacht, welche Nebenwirkungen die Chemotherapie haben kann, bereitet ihn auf alles vor und macht ihm Hoffnung.

Austausch via WhatsApp

Es gibt gute und schlechte Tage. Tage, an denen Marleen, Celine und Mario jemanden zur Stütze brauchen, um zur Toilette zu gehen, und in denen Angst und Depression übermächtig zu sein scheinen. Aber auch die Tage, an denen sie nach vorne sehen und der Kampfgeist erwacht, den sie besaßen, als sie alle drei noch Leistungssport trieben. Ihre Familien müssen die Hochs und Tiefs miterleben und mit durchstehen. Oft bekommen sie die ganze Gewalt der Krankheit zu spüren und oft die schlechte Laune ihrer pubertierenden Kinder. Denn die Pubertät fordert auch jetzt ihren Tribut, und „der Erziehungsauftrag hört mit der Krankheit nicht auf“, wie Marleens Mutter nur zu gut weiß.

An den hellen Tagen holen die Angehörigen etwas Atem, denn dann können ihre Kinder die vielfältigen pädagogischen Angebote annehmen, die die Klinik ihnen bietet. Montags wird gebastelt, dienstags gekocht, es gibt Schulunterricht und Maltherapie. Mario hat das Zaubern gelernt und Marleen das Nähen. Celine nimmt gern an den Veranstaltungen teil, die das Contact-Team für die etwas älteren Jugendlichen bereithält, außerdem ist sie über eine WhatsApp-Gruppe mit anderen Leidensgenossen verbunden. „Eigentlich ist es in der Klinik viel weniger langweilig als zu Hause“, stellt Marleen fest, „nur ein freier Wlan-Zugang fehlt, denn das Fernsehprogramm ist auf Dauer doof.“ Voll des Lobes ist sie ebenso wie ihre Eltern über das Personal, das immer freundlich sei und gerne mal einen Spaß mitmache.

„Hier darf gelacht werden“, verkündete Marleens Vater gleich zu Anfang auf einem Plakat an der Zimmertür. Glücklicherweise tun das viele Besucher, doch nicht alle können locker bleiben, manche ziehen sich zurück, manche schwelgen im Mitleid. Während die Jugendlichen im Krankenhaus stationär behandelt werden, ist der direkte Kontakt mit ihren Freunden und Freundinnen nicht immer möglich. Während der Pausen von der Chemotherapie können sie aber zu Hause besucht werden, auch Lehrer kommen dann regelmäßig zum Unterrichten vorbei.

Celine und Mario, die noch nicht so lange an der Krankheit leiden, hatten kein Problem, das letzte Schuljahr zu bestehen. Bei Celine konnten die Krebszellen stark reduziert, aber noch nicht vollständig abgetötet werden. Trotzdem hofft sie, im kommenden Jahr im Marbacher Friedrich-Schiller-Gymnasium wieder in ihrer alten Klasse zu sitzen und erneut einen Einser-Schnitt zu schaffen. Die schulischen Auslandsaufenthalte, die sie verpasste, darf sie bei stabiler Gesundheit auf andere Weise nachholen.

Ihre Erkrankung löste eine Lawine von Hilfsbereitschaft aus. Der Verein Sternentraum 2000 schenkte ihr für den nächsten Sommer einen London-Aufenthalt, und durch Kuchenverkauf und Maultaschenessen, Bilder- und CD-Versteigerungen sowie viele andere Aktionen engagierter Helfer kam das Geld für eine USA-Reise zusammen, die sich das sprachbegabte Mädchen von Herzen wünscht.

Marleen muss ihrer Schule seit Langem fernbleiben. Einmal schon schien der Blutkrebs besiegt, doch kaum zwei Tage zurück aus den Sommerferien brach er 2014 erneut aus. Nun war eine Stammzelltransplantation nötig, und tatsächlich hatte Marleen das Glück, schnell eine ideale Spenderin zu finden. Die Stammzellen wuchsen an und taten, was sie tun sollten, es ging bergauf. Ende März 2015 jedoch kam es unerwartet zu einer schweren Form der Graft-versus-Host-Desease (GvHD), die Spenderzellen wendeten sich gegen ihren Wirt. Leber, Darm und Haut sind heftig betroffen, das Immunsystem muss massiv unterdrückt werden, Cortison in sehr hohen Dosen ist das Mittel der Wahl.

Wann dieser Teufelskreis durchbrochen werden kann, steht in den Sternen, trotzdem hat Marleen große Ziele. Sie möchte in der Schule den Anschluss nicht verlieren und träumt davon, vor einer Filmkamera zu stehen. Schon einmal durfte sie eine Komparsenrolle in der Serie „Dr. Klein“ übernehmen. Sie war begeistert von dem Blick hinter die Kulissen und der Schauspielerei: „Das würde ich sofort wieder machen!“

Auch Mario kommt an einer Stammzelltransplantation nicht vorbei. Gern würde er, der es früher hasste, einkaufen zu gehen, mit seiner Mutter wieder shoppen. Und noch lieber würde er zur Schule gehen, auf das Wirtemberg-Gymnasium, eine „Elitesportschule“, wie der fußballbegeisterte Junge stolz feststellt. An seiner Krankheit findet er immerhin nicht alles schlecht. „Man bekommt so viele Ideen, sonst erlebte ich immer denselben Ablauf, war der Tag so voll. Jetzt genieße ich mein Leben“, sagt Mario.

Celine, Marleen und Mario kämpfen für sich und ihre Familien, sie kämpfen um ein normales Teenie-Leben. Die Spuren ihres Kampfes werden sie immer in sich tragen. Angesprochen auf die Schatten unter ihren Augen antwortet Celine: „Das sind die Schatten großer Taten.“