Wenn sich Menschen nicht mehr anders zu helfen wissen, rufen sie vielleicht bei der Telefonseelsorge. Es könnte sein, dass dann Margarete Moritz abnimmt. Die Frau aus Riedenberg hört Verzweifelten und Einsamen zu.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Riedenberg - Dabei sein darf niemand, wenn Margarete Moritz aus Riedenberg am Telefon sitzt. Es ist alles ziemlich geheim. Selbst der Ort, an den sie etwa fünfmal im Monat fährt, bleibt anonym. Anonymität ist neben Telefonseelsorge gefühlt das häufigste Wort im Gespräch mit Margarete Moritz. Die Anrufer sollen sich sicher fühlen, in einem geschützten Raum. Dass ihr Name in der Zeitung steht, liegt daran, dass sie seit 2012 enttarnt ist. Seither ist sie im Vorstand der evangelischen Telefonseelsorge Stuttgart, zu der sie nur „TS“ sagt.

 

Sie erzählt aus dieser Welt

Die 67-jährige Riedenbergerin nimmt zwar niemanden mit in ihre Welt als Telefonseelsorgerin, aber sie erzählt. Hat sie Dienst, ist sie in einem großen, schönen Zimmer irgendwo in Stuttgart, es gibt einen Schreibtisch, einen Sessel und eine Liege für die Nachtschicht. Am liebsten telefoniert sie mit Kopfhörern. Ihr Blick schweift aus dem Fenster. Oft schließt sie die Augen. Dann fühlt sie sich demjenigen am anderen Ende der Leitung am nächsten.

Margarete Moritz sagt: „Es geht ums Zuhören, ums aktive Zuhören.“ Nicht um Ratschläge. Ein Satz wie „ach, das kenne ich gut“ käme ihr nie über die Lippen. „Man muss ganz beim Anrufer bleiben“, sagt sie. Und das klingt leichter, als es sein kann. „Es ist unsere Aufgabe, dass wir das aushalten.“ Sie spiegeln die Gefühle des Anrufers, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

An manchen Tagen ist die Leitung wie tot

Sie denkt an einen jungen Mann, der immer wieder anruft. Er ist krank und hat seinen Traumjob verloren. Es gibt Tage, an denen kommt er aus sich raus. An anderen Tagen ist die Leitung tot, weil er kein Wort herausbringt, dann wünscht er sich, dass Margarete Moritz spricht.

Das allererste Gespräch der Stuttgarter Telefonseelsorge war am 2. Mai 1960. Sie war die vierte bundesweit und die erste, die mit Ehrenamtlichen gearbeitet hat. Die Telefonseelsorge finanziert sich aus Spenden. Differenzen gleicht die Evangelische Gesellschaft aus. Im Jahr 2013 zählte die Telefonseelsorge insgesamt 98  aktive Ehrenamtliche und vier Hauptamtliche.

Seelsorge per Mail oder Chat

Sie bieten mittlerweile sogar Seelsorge per Mail oder Chat an. So wurden 2013 alles in allem 550 Mails geschrieben und in 210 Fällen Chats geführt. Die Hauptleitung ist und bleibt aber das Telefon. Im vergangenen Jahr ist 6808 Stunden mit Menschen gesprochen worden, insgesamt gingen 23 219 Anrufe ein, die meisten von Frauen. Wegen Angst, körperlichen Leiden oder Niedergeschlagenheit wählt jemand bei Kummer diese Nummer. Unter diesen drei großen Begriffen verästeln sich Einzelschicksale. Seien es Menschen, die ein tragisches Ereignis vor Jahren noch nicht verwunden haben; seien es Kinder, die sich vor dem Vater fürchten; seien es Menschen, die nicht wissen, wie sie ihren Lieben von ihrem Krebs erzählen sollen; seien es Trauernde nach einem Todesfall oder Leute mit Liebeskummer; sei es jemand, der sich das Leben nehmen will.

Wenn Lebensmüde anrufen, ist das Ziel von Margarete Moritz nicht, sie umzustimmen. „Wenn jemand bei uns anruft, ist er noch nicht ganz entschlossen, sich umzubringen“, sagt sie. Die Telefonseelsorge ist ein Haken, der im Leben hängt. „Er muss jemanden haben, der bei ihm ist.“

Sie weiß, was Sorgen bedeuten

Margarete Moritz weiß, was Sorgen sind. Sie hatte davon schon genug in ihrem eigenen Leben. Ihre Tochter ist als Säugling an einem Herzleiden gestorben, ihre Scheidung war schlimm, und sie musste ihre geliebte Stelle an den Nagel hängen. Sie leitete eine Grundschule in Ostfildern, doch nach einem Sturz im Urlaub war ihr rechter Arm erst mal hinüber. Sie musste mit Ende 50 in den verfrühten Ruhestand gehen. All diese Geschichten erzählt die Frau mit den freundlichen Lachfältchen unverblümt, sie gehören zu ihr, sie haben sie geprägt. „Man muss lernen, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen“, sagt sie. „Dabei braucht man aber Begleiter.“

So hat sie schon früh mit Psychodrama angefangen. Dabei handelt es sich um eine Methode, sich selbst näherzukommen. Probleme zu erkennen, sie zu entwirren und letztlich zu lösen. Es funktioniert nur in der Gruppe. Menschen stellen ihre Träume und Ängste mit Hilfe der anderen auf der Bühne dar. Sie holen es aus sich heraus, schauen es an und tun was damit. Darin geht Margarete Moritz auf.

In der Supervision fällt der Vorhang

In die Telefonseelsorge ist sie vor acht Jahren eingestiegen. In einer 500-stündigen Ausbildung hat sie das Wichtigste gelernt; aber auch jetzt nimmt sie an Veranstaltungen teil, bei denen Fachleute über Sucht, Drogen, Suizid und andere Themen informieren. Das Lernen hört nie auf. Alle drei Wochen treffen sich die Ehrenamtlichen zur Supervision. Das ist der einzige Ort, an dem der Vorhang des Anonymen für eine Weile fällt. Es ist der Ort, an dem die Seelsorger sich ihre Sorgen von der Seele reden. Über das, was ihnen bei einem Telefonat zu schaffen gemacht hat.

Eigentlich telefoniert Margarete Moritz aus Riedenberg gar nicht gern. Gut, mit einer alten Schulfreundin hat sie sonntags vor dem Tatort einen festen Telefontermin. Aber wenn sie ihre Ruhe will, schaltet sie das Telefon lautlos.

Der Hörer ist der direkte Draht zu den Anrufern

In dem großen, schönen Büro irgendwo in Stuttgart ist das anders. Da ist der Hörer ihr direkter Draht zu den Anrufern. Wenn sie ein Gespräch mal arg aufgewühlt hat, gönnt sich Margarete Moritz eine kurze Pause, geht sich vielleicht einen Kaffee holen oder verharrt einen Moment. Damit sie wieder frisch ist für das Neue. Und neu ist es immer irgendwie, auch wenn sich manche Geschichten wiederholen.

An eine erinnert sie sich besonders gut. Und die geht so: Eine tieftraurige Frau ruft an. Sie reden lange, sie reden gut. Am Ende des Telefonats spielt die Frau Margarete Moritz eine Sonate auf dem Klavier vor. Um ihr zu zeigen, was ihr das Gespräch bedeutet hat, um ihr zu danken.