Die Justizvollzugsanstalten in Baden-Württemberg zeigen sich erneut als technologischer Vorreiter: Jüngst wurde das Modellprojekt Telemedizin in ausgewählten Anstalten in Betrieb genommen – womit das Land Neuland betritt, wie der Justizminister betont.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Sieht so der Knast 4.0 aus? Per Videokonferenz verständigen sich der aus einem fernen Land stammende Häftling, der neben ihm sitzende Vollzugsbeamte, ein Arzt in seiner Praxis sowie ein Dolmetscher in Wien darüber, wie dem Insassen am besten geholfen werden kann. Die Telemedizin wurde jüngst als baden-württembergisches Modellprojekt gestartet. Nach einer sechsmonatigen Pilotphase in einigen ausgewählten Haftanstalten soll es auf alle Gefängnisse ausgedehnt werden.

 

Das Projekt ergänzt das Video-Dolmetschen, das mithilfe eines österreichischen Dienstleisters seit Ende März in allen Gefängnissen des Landes läuft. „Weil wir damit sehr gute Erfahrungen gemacht haben, wollen wir die Videotechnik nun bei der medizinischen Versorgung der Gefangenen erproben“, sagte Justizminister Guido Wolf (CDU) unserer Zeitung. Baden-Württemberg betrete mit dem Modellprojekt bundesweit Neuland. Er sehe darin großes Potenzial nachts, feiertags und an Wochenenden. Denn Ausfahrten würden verringert.

Fachleute helfen den Beamten aus der Bredouille

Bisher ist in den Anstalten die medizinisch-pflegerische Betreuung praktisch nur von 9 bis 17 Uhr möglich. Schichtdienste sind da nicht vorgesehen. Hat ein Häftling außerhalb der Kernzeit Beschwerden, soll künftig per Video ein Vertragsarzt zugeschaltet werden. „So kann ich Versorgungslücken abdecken oder gar Sprechstunden einrichten“, sagt Alexander Schmid, der Landeschef im Bund der Strafvollzugsbediensteten (BSBD). Er kennt den Vollzug seit 1991 und hat häufig erlebt, dass genau dann, wenn kein Arzt oder Pfleger mehr in der Anstalt war, ein Häftling Bedarf anmeldet. „Dann ist man in der Bredouille, Entscheidungen im medizinischen Bereich treffen zu müssen, in dem man sich nicht wohlfühlt.“ Denn da tauchen Fragen auf, wie: Muss der Notarzt kommen, der jedoch mit dieser Klientel wenig Erfahrung hat? Spielt der Häftling dem Beamten etwas vor? Will er nur an Tabletten gelangen, um über den Drogenentzug hinwegzukommen? Dank der Telemedizin entscheidet darüber künftig ein Fachmann.

Die Fluchtgefahr wird verringert

Damit schwindet auch das Risiko einer sogenannten Ausführung – für Schmid wohl der größte Vorteil: Mit der Telemedizin „bietet sich vielleicht die Chance, dass wir weniger aus den Anstalten zu externen Ärzten oder ins Krankenhaus fahren müssen.“ Die Fluchtgefahr werde dadurch geringer. Es sei schon vorgekommen, dass Krankenfahrten für Ausbruchsversuche instrumentalisiert werden sollten.

Eine Ausfahrt dauert zwei bis vier Stunden. Pro Gefangenen werden stets mindestens zwei, manchmal auch drei Vollzugsbeamte als Begleiter eingesetzt. Müsse die „Ausführung“ am Wochenende stattfinden, werden schon mal zwei Kollegen aus der Freizeit geholt oder aus dem laufenden Dienst herausgelöst. „Dann fehlen sie wieder woanders“, so Schmid. „Wir reißen immer Lücken – wenn das künftig seltener geschieht, haben wir einiges gewonnen.“

„Ausführungen“ erfordern hohen Aufwand

In einem Bericht des Landes für 2016 wurden 427 externe Krankenhausaufenthalte von durchschnittlich 3,4-tägiger Dauer festgehalten. Schmid hat errechnet, dass die Bewachung in der Zeit zehn Personalstellen entspricht. Insgesamt gab es 14 183 Ausfahrten – macht bei zwei Bediensteten à zwei Stunden hochgerechnet 40 Vollzeitstellen. Dieser Aufwand sei „nicht im System eingepreist“, so der Gewerkschafter. „In der Summe ist es eine Belastung, die sich an allen Ecken und Enden auf die Funktionsfähigkeit auswirkt.“ Die Technik könne „Druck rausnehmen“. Und sie helfe sparen, weil ein amtlicher vereidigter Dolmetscher ein „Heidengeld“ koste.

Im Vorfeld des Pilotprojekts hatte das Justizministerium mit einem Anbieter telemedizinischer Leistungen eine Rahmenvereinbarung abgeschlossen. Erprobt werden ein allgemeinmedizinischer und psychiatrischer Bereitschaftsdienst sowie feste Sprechstunden in den Bereichen. Erste Behandlungsfälle seien zur Zufriedenheit aller Beteiligter abgeschlossen worden. Mit dem Dienstleister wird nun eine Erweiterung des Leistungsspektrums, etwa Tele-Dermatologie, geprüft. Zudem wird eine externe Evaluation vorbereitet – erste Ergebnisse werden bis Ende 2018 erwartet.

Sprachbarrieren verstärken Aggressionen

Bei fast 100 Nationen wird der Alltag im Knast immer schwieriger. Jeder zweite Häftling hat keinen deutschen Pass. So steigt die Zahl der Insassen, mit denen eine Verständigung nur per Dolmetscher möglich ist. „In den vergangenen zwei Jahren sind die Sprachbarrieren im Justizvollzug weiter gewachsen“, sagt Wolf. „Das ist umso bedenklicher, als wir es zunehmend mit psychisch auffälligen Gefangenen, auch aus fremden Kulturkreisen, zu tun haben.“ Mit guter Kommunikation lassen sich Missverständnisse ausräumen und deeskalieren.

Die Sprachbarriere berge „die Gefahr, dass sich unnötige Aggressionen aufbauen, wenn wir die Spielregeln in der Anstalt nicht vermitteln können“, sagt auch Alexander Schmid. Ausländische Gefangene behandelten die Staatsgewalt generell eher ablehnend. Ferner „haben wir zunehmend Leute im Vollzug, die mit allen möglichen Paketen kommen.“ Oft werde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Hinzu komme der Druck durch die „deutliche Überbelegung“. Selbst das Ministerium räume ein, dass 1000 Insassen nicht gesetzeskonform untergebracht seien. Folglich wächst auch der Bedarf an psychischer Behandlung. Der BSBD-Landeschef setzt viel Hoffnung auf den Telemedizin-Piloten. Schon nach Einführung des Videodolmetschers habe er „bisher keine einzige negative Rückmeldung bekommen“.