Rafael Nadal gewinnt als erster Tennisspieler der Welt 21 Grand-Slam-Turniere. In einer historischen australischen Sommernacht schreibt er Geschichte.

Sport: Dominik Ignée (doi)

Melbourne/Stuttgart - Rafael Nadal hielt beide Hände vor sein Gesicht, und als er sie wieder wegnahm, lächelte er ungläubig und schüttelte immer wieder den Kopf. Dann marschierte er zum Netz, um die Glückwünsche des Russen Daniil Medwedew entgegenzunehmen. Die waren herzlich. Der Verlierer eines epischen, fast fünfeinhalb Stunden andauernden Tenniskrimis im Finale der Australian Open war zwar in höchstem Maße enttäuscht, doch war er Teil eines historischen Moments. Auch Medwedew war sich der Bedeutung des Sieges für seinen Gegner bewusst gewesen.

 

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Rafael Nadal hat nach seinem unglaublichen Finalsieg in Melbourne als erster Spieler dieses Planeten 21 Grand-Slam-Turniere gewonnen. Damit ist er an Novak Djokovic und Roger Federer, die beide auf 20 Erfolge kommen, vorbeigezogen und alleiniger Rekordhalter. In Paris auf Sand, die große Spezialität des Mallorquiners, könnte er dann sogar mit 22 Titeln auf- und davonziehen – aber das ist Zukunftsmusik. Und in dieser geschichtsträchtigen Tennisnacht von Melbourne war es zunächst auch völlig egal.

Der Spanier ging auf die Knie, ließ sich von seinen Teammitgliedern streicheln und umarmen. Er hatte das Unmögliche möglich gemacht. Dass er bei seinem Comeback nach fast einem halben Jahr Pause überhaupt ins Finale kommen würde, war schon das eine große Wunder. Dass er es auch noch gewinnen würde, gleicht einer Sensation. Eine, an der Nadal zumindest am Matchbeginn große Zweifel haben konnte. Er gewann mit 2:6, 6:7, 6:4, 6:4, 7:5 gegen den unbequem spielenden Medwedew. Die ersten beiden Sätze hatte Nadal verloren – und dieses Match mit einem unnachahmlichen Kraftakt doch noch gedreht. Mit 35 Jahren und kaum Turnierpraxis in den Monaten zuvor. Und das auch noch gegen einen zehn Jahre jüngeren Topmann der nächsten Generation mit einem torpedoartigen Aufschlag.

Medwedew ging die Puste aus

Daniil Medwedew ging im letzten Satz dieses unfassbaren Matches die Puste aus – aber nicht die Schlagkraft. Umso erstaunlicher war es, dass Nadal im fortgeschrittenen Tennisalter nach fünf Stunden noch kräftiger wirkte als sein Gegenüber und sich nur durch Fehler hin und wieder in Schwierigkeiten brachte. Doch am Ende war es auch ein Sieg des Willens. Er wollte diesen zweiten Titel in Melbourne nach seinem Triumph 2009 – unbedingt. Und er wollte den Rekord. Er war so nah dran, also kämpfte der Stier aus Manacor wie so häufig in seiner beispiellosen Laufbahn.

„Es ist eines meiner emotionalsten Matches in meiner Tenniskarriere – und diesen Moment mit dir zu teilen, das ist eine Ehre für mich“, sagte Nadal sichtlich bewegt und drehte sich immer wieder zu Medwedew um – eine große Geste war das. Nadal war sich der Bedeutung seines Erfolgs sehr bewusst. „Das wird unvergessen und für den Rest des Lebens in meinem Herzen bleiben“, sagte er, zumal noch vor einigen Wochen ein Comeback dieses Ausmaßes unvorstellbar war. „Um ehrlich zu sein: Vor eineinhalb Monaten wusste ich nicht, ob ich auf die Tour zurückkommen kann“, meinte Nadal, „und nun bin ich hier und habe diese Trophäe.“

Kein Cent gesetzt

Noch im Dezember hatte der Tennisexperte Boris Becker keinen Cent auf Nadal und seinen Kollegen Roger Federer gesetzt. „Die beiden Großen des Tennissports müssen sich Gedanken machen, wie lange man sie Spieler nennen darf“, polterte der dreimalige Wimbledonsieger in einer seiner Analysen munter drauflos.

Nadal hat Becker nun eines Besseren belehrt. Natürlich war sein Freund und Dauerrivale Federer wegen anhaltender Knieprobleme nicht am Start. Und natürlich nahm sich Djokovic mit seinem Einreisetheater und dem verlorenen Rechtsstreit um einen Aufenthalt in Melbourne selbst aus dem Spiel. Doch das kann die Leistung von Nadal nur bedingt schmälern. Denn seine Voraussetzungen für einen Erfolg waren bescheiden. Vielmehr sollte sich der Tennisnachwuchs ernsthaft Gedanken über sich selbst machen. Wie lange will man der Generation um Nadal und Djokovic noch beim Siegen zusehen?

Zum Vergessen

Das vergangene Jahr war für den Spanier jedenfalls eines zum Vergessen. Er gewann zwar noch in Barcelona und Rom auf roter Asche, doch danach scheiterte er erstmals im Halbfinale der French Open an Novak Djokovic. Ein Turnier, das er zuvor viermal in Folge gewonnen hatte und bei dem er mit 13. Titeln vermutlich ein Rekordsieger für die Ewigkeit ist. Nach der Paris-Niederlage gab Nadal bekannt, Wimbledon und die Olympischen Spiele auszulassen, um sich von seinen körperlichen Beschwerden zu erholen. Und nach einem Kurz-Comeback in Washington, D.C., beendete er die Saison wegen hartnäckiger Fußprobleme vorzeitig – und verschwand wieder von der Bildfläche.

Anfang Dezember warf ihn noch eine Covid-19-Infektion zurück. Sein Start in Melbourne stand lange auf der Kippe. Dann tauchte er auf, erst heimlich auf einem australischen Trainingsplatz, später dann im Turnier. Und dort zeigte er, was er noch immer zu leisten im Stande ist. Das Kraftpaket, dessen gleichnamiger Großvater übrigens ein bekannter Musiker und Dirigent war, will das Feld noch nicht so schnell räumen.

Jetzt sind die anderen dran

Dieser Erfolg ließ in Melbourne aber auch manches vergessen, etwa die unschönen Momente seiner Karriere. So wurde der Name Nadal in Zusammenhang mit dem spanischen Dopingarzt Eufemiano Fuentes genannt. Im März 2016 warf ihm die ehemalige französische Sportministerin Roselyne Bachelot Doping vor. Der Tennisspieler, der die Vorwürfe bestritt, reichte gegen Bachelot Klage ein. Bachelot wurde wegen Diffamierung schuldig gesprochen, Nadal erhielt 10 000 Euro Schadenersatz – ein bitterer Nachgeschmack aber blieb.

Das waren düstere Zeiten im Tennisleben von Rafael Nadal. Augenblicke, an die in der traumhaften Nacht von Melbourne keiner dachte – schon gar nicht er selbst. Es galt, sich vor Rafael Nadal und seiner bisherigen Lebensleistung auf dem Tennisplatz zu verneigen. „Es war ein Tag für die Tennisgeschichte!“, jubelte Becker – und setzte Federer und Djokovic die Pistole auf die Brust: „Jetzt seid ihr an der Reihe nachzulegen.“